Der editierte Text

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a, den 6.I.08.
Lieber b,

Endlich – ich stelle Euch auf harte Proben.... c mußte ebenso lang warten,– d hat heut' noch keinen Ton zum Geburtstag.. u. sonst hört gar niemand etwas. Ich könnte auf Dein dictum hin, "ein Wiedersehen erzwingen zu wollen" – auch diesen Zeitverlust sparen.. den Brief garnicht schreiben, weil sich doch alles ganz anders gut mündlich sagen läßt; ich schreibe aber doch ein paar Seiten, weil das Wiedersehen noch im Zeitenschoß ruht.. Heute Nachmittag bin ich mit zwei andern (Bruder {¿¿¿ ¿¿¿} + e – {¿¿¿} [Darstellung: Wingolfzirkel.] ) – Auf unsrem Fluß ungefähr 8-10 km |:Schlittschuh:| gelaufen. D.h. So 16-25.| Der Hinweg bei starkem Wind 1 ½ Stunden der Rückweg mit dem " " 1 30 Minuten. Ein herrliches Vergnügen. Das ist etwas anderes als das stumpfsinnige Menschengewimmel der berühmten (WS07) „Südeisbahn“.. Z. T. nicht ungefährlich, da der Fluß an manchen Stellen offen ist. Es war aber eine Lust zu leben. Man vergaß wenn man pfeilschnell vorwärts flog für einige Zeit alles – was sonst die Stirn etc. in Falten zu legen in der Lage ist. Hunger u. gesunde Müdigkeit sind die Folgen. Indirekt auch wirst Du an dieser köstlichen Fahrt teilnehmen – am Stumpfsinn des Briefes sie spüren. Gestern haben wir uns im Wald mit Rutschschlitten vergnügt – Du siehst also| daß hier ein kleines f ist.. zur Kur sehr zu empfehlen. Vielleicht hast Du aber auch dort auf den Seen genug derartiges (cf. WS 07 Segelschlittenfahrt auf dem Muggelsee) – Ehe ich fortfahre die strikte Anweisung meine Briefe nicht ohneweiteres mit anderen zu studieren. Ich höre sonst einfach auf irgendetwas von mir – d.h. mich beschäftigendes zu erzählen. Ich hoffe, daß Du das beherzigst – also keinem Menschen! – Aus Backfischelei tue ich das nicht, auch nicht weil ich Schauergeschichten erzählen möchte – aber der persönliche Schmalz ist für mich eo ipso damit zerstört. – Wenn Du meine Schrift nicht liesest, so bin ich gerne bereit eine Schreibmaschine (war jetzt schon haarscharf daran) anzuschaffen, damit dann mei| ne Krähenfüße keinem Menschen mehr zur Last fallen.

Daß Du so viel über Dich nachdenken kannst – am Semesterschluß und Sylvester ist erfreulich.. d.h. ich komme in dieser Woche selten dazu – ich will die Gründe nicht angeben – es ist ein Stück eines ähnlichen Nachdenkens wie des Deinigen, daß ich {¿¿¿ ¿¿¿} nicht in der Lage zu sein oder zu versäumen einerseits Pläne genau zu scizzieren für kommende Zeit – andererseits Erlebtes |:zu:| Schubladen sauber einzupacken und hübsch zur Ansicht daliegen zu haben. – "Es" lebt und wächst mehr als "ich" – und so weit bin ich da, um zu| sehn, daß ich nicht da bin. – Das nur als Randglosse.... Mein Knochentuberkulosekranker 20 Jahre und 6 Tage alt – hat einen geraderen u. klareren Weg. Wenns so was einmal käme, dann könnte man alle {¿¿¿} lassen... – Das Verlangen mit Dir geordnet zu sprechen[,] ist übrigens auch da.. Zunächst auch meinerseits einige müßige Fragen?! – Was ist besser – ein Gemeinschaftsmann, der in Christo seinen Heiland hat ... an der Verbalinspirierten Bibel festhält; Dämonen und Geister sieht – Zungenreden hört – an die Auferstehung glaubt auf die Parusie wartet – oder, ein Wingolfit, der in die Kirche geht, ein sauber exegesierendes Bibelkränzchen besucht – einige Freunde hat –, und eine Er| kenntnistheorie und Gott sucht...

Woher kommt es, daß im Wingolf vormals zwei miteinander beten, wie es Ihnen ums Herz ist? – Gemeinsam beten heißt – Christ sein – einsam – es werden wollen... ? – Genügt es zum Anfang, wenn man nichts hat als das Zutrauen zum Xstus der Schrift und sonst nichts – weder Prä- noch Postexistenz? – Wie wird der Amerikanismus in unsere Volkskirche sich eingliedern?... Ist das heutige Kirchentum noch , [sic!] im Stande die Gemeinden zu modernisieren[,] ohne sie zu liberalisieren?.... Muß ein {???}| moderner aber "positiver" Christ - sich ohne weiteres mit jeder Religiosität eines fühlen. Muß er sich zwingen –, alle Gedanken, die er ablehnt, {???} alle Formen, die ihn abstoßen zu genießen und sich ihnen unterordnen – oder ist ihm das nicht Sünde? – ......

Zu Deinen Fragen kann ich Dir nicht sonderlich viel Positives geben. Weiß auch nicht[,] ob ich sie recht verstehe. – Ist es die Frage nach dem Wesen der Religion, die Dir vorschwebt? – Oder suchst Du nach der Psychologie des Glaubens und der Sünde? – Endlich die Frage, was "davon" allgemein, individuell etc ist – heißt das: Wie verhalten sich Religion| und Religiosität? – Giebt es ganz bestimmte allgemeine Züge in letzterer und sind diese bedingt durch den ganz bestimmten religiösen Gehalt – oder spielen eben hier Temperament, Stand, Lebensgeschichte die Hauptrolle?.. Ich kann auf alle diese Fragen eigentlich nur ein non liquet antworten – falls Du sie im streng systematischen Interesse stellst. – Wenn Du aber zunächst nur Beobachtungen willst – dann ist der Stoff, den jeder Tag dem Aufmerksamen liefert unendlich. – Aber Auch an die Möglichkeit gewisse Typen von Menschen, Religionen d.h. Xstentümern u. "Religiositäten" festzustellen – scheint mir selbst| verständlich zu sein. Aber diese Arbeiten werden zu einem blossen Resultat führen – so wie g Charakter u. Weltanschauung. – eigentlich nur das erweiterte Problem {¿¿¿ ¿¿¿}. – Und doch sind mir diese Fragen in gewisser Beziehung aus der Seele gesprochen – vielleicht siehst Du eben das schon an meiner letzten Frage. – Ich schrieb vielleicht, daß hier bei uns Gemeinschaft und Kirche nebeneinander stehen – offiziell landeskirchlich – in der Religiosität ganz anders als die "tote steife alte – ungläubige kalte Kirche" – – denn in der Gemeinschaft geht's im |:{???}:| "Walzertakt" und auf den {???} – der Herr giebt den Text, man dient am "Wort" und viele legen Zeugnis ab – auch gesegnet – unermeßlich reich geht man nach Hause –| der Herr kommt bald u. wird seine Gemeinde holen. Aber Trinker u. Ehebrecher etc. – d.h. alle Menschen – mögen schnell umkehren und gerettet werden – das Blut trinken... – was schert sie die Seele Not – hier ihr volles Genüge – steuert Euren letzten Pfenning zum Vereinshaus bei – 1000fach wird's droben vergolten.. Gewerkschaftsbewegung: Zion laß Dich ja nicht laulich finden – – das ist Kompromiß. –

In der Kirche liest man Gebete – Kanzelgruß, schluß innigem Gleichmaß. Man kann's längst auswendig[,] aber man liest weiter. – Die Gemeinde kann höchstens 1/3 mitbeten, so lang sind die Gebete| – das "Evangelium" diktiert die Perikopentabelle – nicht der Herr u. die Predigt wird "ausgearbeitet" – nicht vom Geist gegeben. Womöglich ist die Heizung nicht in Ordnung... es ist kalt in dem hohen Raum – leer vielleicht auch – die Predigt wird schwer verstanden – es hallt so ... ein Teil der Xsten schläft, andere blättern im Gesangbuch... – ist das nicht die Kirche... .... so-sagt-man's.. man kann viel boshafter sein – man muß nur sich in einen modernen Naturwissenschafter verwandeln – ein Gemeinschaftsmann ist noch zu sanft.... Dann das "Nicaenum" vom Altar hören lassen und dann eine Predigt von einem dickbäuchi| gen Pfarrer über irgend ein Wunder gegen die gottlose Wissenschaft pp.......

Unermeßlich groß sind die Unterschiede in der Religiosität. Schon unter Christen also wenn ich bei der großen heutigen Bewegung – die pietistische Frömmigkeit pp. – {¿¿¿} – stehen bleibe u. ihr Verhältnis zur Kirche ansehe ist die Mannigfaltigkeit sehr groß. Die Unterschiede sind enorm – wie zw. Wingolf u. DCSV... Erst recht wenn man weiter geht zu den Frei-gereligiösen Theosophen – pp!. Zu den Bierphilistern u. den Gebildeten "Privat"-christen. Die Religiosität ist verschieden im höchsten Maße – bedingt ist's durch alle Faktoren, die man nur denken kann...

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Mündlich! Mündlich! Morgen Konfirmandenstunde 2 Artikel... Heute zu Bett {¿¿¿} 11 1/2h.

Also leb wohl! Komm doch z. {¿¿¿ ¿¿¿}
D. h.

Was macht i?


Fußnoten, Anmerkungen

1Bezieht sich auf "starkem Wind".

Register

aHersfeld
bTillich, Paul
cFritz, Alfred
dBertheau, Lorenz
eAuel, ???
fSankt Moritz
gAdickes, Erich
hSchafft, Hermann
iKaumann, E.

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 G
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Hersfeld - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 11. November 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 9. Mai 1912

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 6. Januar 1908, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00259.html, Zugriff am ????.

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L00259.pdf