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Hersfeld. 11.XI.07. Nur für Dich.

Lieber Paul,

q. b. f. f. s.– Schönen Dank für die beiden Briefe1]. Von mir ist keiner verloren gegangen. Was soll ich schreiben? Was willst Du wissen. Meine Kräfte reichen gerade zur Ausfüllung dessen was ich soll d.h. halb.– Mehr nicht. Und nun noch schreiben. Den Ehrgeiz mit dem dicksten Pack Briefe zu heben – entdecke ich nicht in mir – ich könnte Dir wenn ich wollte Briefe schreiben, die Du sofort verbrennen müßtest, wie das bei Backfischen vorkommt – aber das ist schließlich auch nichts wert. – Zur Antwort auf Deinen letzten Brief2] bemerke ich

1) ich trete Alfred nicht, daß er mir die erledigten Hefte schickt. Wenn Du es tun willst gut – Ich freue mich, wenn ich sie kriegen werde.

| 2) ich habe die Hall.enser nicht zu der Dummheit bestimmt. Laß Dir – wenn Dus nicht glaubst, besser Bescheid sagen. Ich habe zun. abgeraten und gesetzliche Schritte vor der Aufnahme gewünscht. Nach dem Faktum nörgle ich nicht. Ich las das "Vertraulich" von Lotz, wenn der Bund Knigge lieber hat als den εις dann treten nicht nur Nell u. Jäger aus, – von denen mir aus Tübingen dunkle Worte schallten.– (Silentium?)

3) Du bist toll, wenn Du die ganzen kleinen Loofs wissen willst.– 1/2 ist genug; natürlich richtig ausgewählt. Hilf Dir durch K. Müller. – (Ia) für d. 1 Teil Schubert event.) Seeberg ist nat. entsetzlich. Scholastik weiß er was. Nimm doch Loofs kleinen Dogmengeschichtsextrakt zum pauken.

4) Wie kommst Du darauf Jülicher zu glauben? Besticht Dich die Logik oder die Überzeugung von der Richtigkeit seines Findens. Er greift alles an – das zieht. Wenn wirklich etwas da zu holen ist – auch für banausische Landpfarrer so schreib; dann kneife ich.

5) Ist das NT von Weiß mit Anmerkungen den Einkauf wert? – (objektiv!).

6) Schwatz kein albernes Zeug vom Nicht| fertig werden u. ähnlichem Unsinn. Sei dem lieben Gott täglich dankbar für alle Deine Gaben – Gutes Gedächtnis u.s.w. u. denk im übrigen nicht ans Examen. –

Mir hat Kirchengeschichte am meisten Freude gemacht, das ist das einzige, was ich 3x die Woche 1 Stunde lese: Hauk.–

Mein Leben: Skizze einer kurvenreichen Linie Solche Kurven?– Ja; zunächst aber will ich – nur mal aufzählen, denn zu schmückenden Beiwörtern keine Zeit. Heute: 8-1. h.Revision Hospitieren in der hiesigen Stadtschule durchschnittlich 3 Stunden täglich (8-11) – anstrengend. 22 Klassen – bis Weihnachten zu tun. Alle Fächer, nicht nur Religion, psychologische-pathische Studien bei Lehrern u. Schülern. Leider keine Zeit genaue Skizzen nachträglich zu entwerfen. Z.T. Teil von unsagbarer Komik z.T. von herzbrechender Tragik. – Heute z.B: Religion: 2 Artikel. Zunächst richtiggehend. 2 Naturenlehre ala Quistorp!! Alter 11-10 Jahre!– Dann Belege der Gottheit Jesu: 1) göttliche Eigenschaften 2) göttliche Werke 3) Kommen 4) Verehrung. Belegstellen zu 1) Allwissenheit: Herr, Du weißt alle Dinge! Belegstellen zu 2.) Werk der Schöpfung: Beleg: Laßet uns Menschen machen, einem Bild, das uns gleich sei – das hat Gott der Vater: er sagt uns, denkt also an die 2te (u. 3te?) Person der Gottheit – "Gott den Sohn" mit!! – Mein Herz zerriß – u.s.w. messianische Weissagungen im schlimmsten Stil. – Beinah wörtlich hat Jes. 53 das Leiden vorausgesagt – – – – O Wellhausen, hilf.| Der Kampf in den die Kinder später kommen können! Aber wie helfen? Wo ist die neue Schriftlehre? Die Orthodoxie ist kräftig gewiß –, denn Hollaz wird in den Volksschulen gelehrt.– Womit stützt sich unsre modernpositive beim Volk? ... Andere erzählen lieber Märchen als biblische u. das Herz ist in der Religion so kalt daß man schaudert. – Andere – wollen erbaulich sein (– sehr überzogen von "ihrer" Methode): dictum: "Wir wissen, daß fromme Kinder aufpassen, stille, sitzen! – Nun (erhobener Stimme, lungenvollen) will ich einmal sehen, wer in der nächsten Viertelstunde wieder diejenigen sind, die nicht fromm sind." – (15 zappeln entsetzlich – 10 davon haben einen Floh!) –– .... u.s.w. Daneben: Alkoholzüchtungen verblödete Kinder: Theodicee u. so weiter, vermischt mit dem Zorn über pädagogisches Ungeschick – z.T. freilich auch erstaunliche Leistungen. Rechnen 3 x so fix wie ich!! 17 x 46 pp im Nu. 1345 durch 63 pp. alles schnell im Kopf. –

Ein ander Bild 11 – 1 Karten u. Schreibereien für den Jünglingsverein bis 3/4 3 am Band nach Tisch. Dann Krankenbesuch: 19 Jahre, Knochentuberk. 6 Löcher in Armen u. Beinen (Römerbrief Durchnahme). – Dann Schularbeiten der beiden kleinen Pensionäre (die gleich mein Briefschreiben hier stören). 6-7 Stunde| dem größten – der entsetzlich schwach ist. Nach Tisch Abend heute Stormsche Lektüre mit Baumeister Gelderblom. (mir längst bekannt – also Gefühl des "Übergebens"). – Morgen! 8-11 Schule. 11- 1/2 1 Konfirmandenstunde: 2 ganz idiot. Sonst alle minderbegabt (Auswahl) – Sorge u Freude zugleich. Mm. Schule u. für Abends Gebetsstunde im Jünglingsverein. – Mittwoch Schule. - 11. – 11-1 für mich. Mm. wie gewöhnlich. Ab. Bibelstunde in der Stadtkirche (dazu Mm. vorbereiten). Donnerstag Schule. Abends Bibelstunde im Jünglingsverein. Freitag Schule. Abends Kindergottesdienstvorbereitung. Mittag 11-1 Konfirmandenstunde. 9-10 Abends: Posaunenstunde im Jünglingsverein. Sonnabend: Schule. Mm. Spazierengehen. – Krankenbesuche nicht eingerechnet zwischendurch an den Tagen. Jeden Tag die Jungen gleichmäßig. Sonntag, entweder 2 Predigten u Jünglingsverein oder Jungfrauenverein Bibelstunde – die Gemeinden wo ich predige – z. T. "Arbeiter" – entsetzlich verrohtes Volk darunter, verfeindet untereinander, schwer zu versorgen. – Das alles ist eben| ein Conglomerat von Beschäftigung, das einen ganz hinnimmt. Dr. u. Lic. liegen weit aus meinem Gedankenkreis. Das Schwere ist, daß die theoretische Bewältigung u. Verarbeitung nichtda möglich ist. Es stürmt so viel auf einen ein. Gemeinschaftsbewegung u. Gottlosigkeit sind die Pole. – Man fühlt die ganze Wucht der Schwierigkeiten unserer heutigen Lage. Manchmal hohnlacht man innerlich über Kirche u. ihre Versuche – Manchmal graut einem vor dem Gift was in Presse u. Volk steckt u. was in feinen Nuancen aus den meisten Menschen heraussieht. Harder u. Consorten singen in lieblichen Tönen mit in diesem Zerstörungswerk – aber wirklich große Bewegungen gegen allen solchen Dreck merkt man nicht. Einheit "im Geiste" wo ist sie hin? Wenn man am Sonnab. Abend mit ein paar Fabrikarbeitern in der Gebetsstunde kniet (cf dagegen| Bibelkränzchen im Hallenser Wingolf) dann hat man schließlich die einzige frohe Zeit. D. h. es ist natürlich übertreiben: das "einzig" gilt logisch nicht zeitlich. Das ist das womit man sich wirft – oder wozu man getrieben wird – zumal wenn zu allem dem was man sieht noch eigene moralische Kraftlosigkeit kommt, wenn man selbst immer wieder im religiösen Leben lau und matt ist, wenn man wirklich Amtsträger u. nicht Geistbegabter ist. – – Es stürmt, so einfach, u. durchsichtig für einen kühlen Geist vielleicht alle die Fragen sind, die mir das wage immerzu aufstehen – doch in mir und ich bin zu Zeiten sehr unruhig. – Wohin – solls? – Daneben der Gedanke an die eigene Halbbildung und die Frage: Was hat Arbeit im Weinberg – wo die Not so entsetzlich groß u. die Zeit so kurz ist – mit dem Oxen zu tun? – Gewißheit – ganze Freude giebts da doch nicht. Anderseits zeihts mich mit allen Fasern zu den Büchern hin...| Es läßt sich nicht schreiben. Ich wollte, ich hätte kältere Natur. – Es nimmt mich alles zu sehr mit. Wie es im Winter wird noch, weiß ich nicht. Das beste wäre für uns, man könnte sich mal sehen, mal aussprechen. – Fröhlicher Kampf u. fröhliches Arbeiten will erkämpft sein. – Auch die Ruhe zum Briefe Schreiben – Ich weiß nicht, ob ich sie finde – versuchen will ich das nächste Mal – einzelnes vernünftig zu sagen – Wo ist Friedrich? – Was tut Albert? –– Leb wohl, mein Lieber Paul – ärgere Dich nicht zu sehr über mich

In herzlicher Liebe
Dein H.
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    Literatur:

    • Weiss, Bernhard. Das Neue Testament. Deutschland: Hinrichs, 1902.