Der editierte Text

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Mein lieber a!

Herzlichen Dank für Deinen „Verzicht auf das Recht“, das Du zweifellos gehabt hättest, mir nicht zu schreiben und so Böses mit Bösem zu vergelten; aber die Lücke in der Reihe der Geburtstagsbriefe wäre ohne Deinen doch zu groß gewesen. Außerden soll der erste historische Teil des Briefes Dir beweisen, daß die Schuld doch nicht so groß ist. Also zunächst das Ende des Semesters: Gleich nach b1 kam mir der Bornhäuserbetrieb über den Kopf, war aber nachher ganz famos; ich hatte die Kneipe von demselben Platz zu leiten, wie das Stiftungsfest,2 doch waren noch mehr Laute da; die Rede war mir eine große Freude da ich c vom homiletischen Seminar sehr schätzte;3 dann tönten f, g, h und i; Die Sache dauerte bis 12 Uhr; am nächsten Tage dedicierte j mir sein Typ. Dann kam der Schluß mit doppelter Arbeit. Der letzte und schwerste Teil der Statutenrevision war noch zu erledigen, unter | anderem die Hauptstatuten und den Komment. Letzterer brauchte nur unwesentlich geändert zu werden, so die Anstichsliederordnung nach Tübinger Modus. Schwieriger waren die Hauptstatuten: Das Wichtigste und Komplizierteste war die Inaktivierungsordnung. Wir haben nun 6-semestrige Aktivität im Bunde, 7 semestrige in k und nach dem Examen ablehnbarer Antrag auf Philistration, es ist mir eine große Freude, daß ich dieses habe durchsetzen können; es war aber nur eine geringe Minorität dagegen. Neu ist ferner abgesehen von vielen Einzelheiten, die Geschäftsordnung des Konvents, und die A-H-C4 Wahlen, letzteres im Anschluß an „Fall l“ und 2 ähnliche Fälle entgegengesetzter Art in diesem Semester. Was die dauernden Konventsbeschlüsse betrifft, so haben wir die volle Restitution des Begräbnis-§ in Bezug auf Duellanten erreicht, bei Selbstmördern das Verbot der Nichtbeteiligung nur durch das Wörtchen „Pflegt sich nicht“ erweicht. Ferner haben wir das Wohnen auf dem Hause für Hallenser Brandner5 offiziell gemacht und die Auswahl dem B-C übergeben. – | Der Schlußkonvent erreichte die schöne Länge von 7 Stunden, vor allem durch die 25 Jungburschen6, die über einen scharfen Passus in der Historiographie über ihre Faulheit eingeschnappt waren und sich sämlich in den wildesten Tönen ergingen. Mit der Wahl bin ich durchaus zufrieden. m wird seine Sache schon machen und n ist absolute Autorität. In o redete oder las vielmehr p, inhaltlich sehr begabt; er hatte sich, wie er auch sagte, das Thema meiner Stiftungsfestpauke gestellt und führte es ergänzender Weise nach der voluntaristischen und vor allem persönlichen Seite hinaus. Das Schlußerbauungskränzchen von q war das glänzendste, was ich gehört habe. Und dann die Schlußkneipe: der xx7 recipierte r, dann hielt ich die Schlußpauke, die vielleicht mehr eine Selbstdarstellung der Gefühle als eine allocutio war. Das letzte Hoch was doch nicht ganz leicht. Sie habens wohl auch gemerkt! Dann paukte s die Weggehenden, insbesondere mich in rührender Weise an und a. H. antwortete ebenso, dein Sprüchlein von der Juden Sehnsucht nach t citierend. Dann paukte u die Philister an und führte sich glänzend ein; und schließlich, für mich der Höhe| punkt, hielt v mir, das Auge nicht von mir lassend, eine herrliche Rede über das was w von mir noch in Zukunst erwarte: Tapferkeit und Bescheidenheit! Dann hielt der x seine Bemostenpaucke und sang ihn dann, und dann: Schlußkneipe ex, S/S. ex, x ex, y ex. Du weißt ja so gut wie ich, was das heißt! So oft auch nachher der Gedanke: Statutenrevision ex, Pauken ex, Verantwortung ex lockte, als es so weit war, erfand es sich, daß der Verlust den Gewinn, unendlich überwog. Aber Du hast Recht! Ruhe tut Not; wenn ich sie hier nur finden könnte. Aber während Du in einer gewissen egoistischen Einsiedelei in z lebst, bin ich in einen großen Kreis von Familienpflichten gestellt, die mir nicht ganz leicht werden, sowohl wegen der langen Entwicklung, als auch wegen der unglaublichen Unruhe unseres Hauses, als auch wegen des Raubes an Zeit und Kraft. Aber mit einiger Energie läßt sich ja alles erreichen, und so hoffe ich auch Dich daran mich auf die Dauer zu gewöhnen. Die erste Vorbedingung ist jetzt geschaffen, nämlich meine Stube, die bisher nur Durchgang und Schlafflur war, ist durch ein großes | Bücherregal mit Schlemmerbibliothek und durch eine sp. Wand in eine Wohn- und eine Schlafstube geteilt, so daß ich in ersterer Ruhe habe. In 8 tägiger Arbeit haben wir dann mit vereinigter Ästhetik die Ausschmückung auf für mein Empfinden schlemmerhafte Art besorgt. Du solltest sehen und staunen! – Ob es nicht doch noch|:mal:| möglich ist? Die Hauptrolle spielen natürlich die Typs, mit denen ich mich als Ersatz ihrer Originale trauernd begnügen muß. Um die Fülle zu bergen, hat aa mir ein großartiges Album zum Geburtstag dediziert. Unter den übrigen Schikane – u. a. ab – war mir von besonderer Bedeutung von ac ein Bilderbuch zum x-Semester mit reizenden kleinen Bildchen, allenthalber ausgeschnitten und den diesbezüglichen Versen; eine dauernde Erinnerung. – In ad habe ich mich gut erholt; die Gefahr war mehr, von Mücken als von Walfischen aufgefressen zu werden. Das Zusammensein mit ae (af und ag) war reizend; er tronte mit ah im Strandkorb auf unsere Riesenburg, | gegen die an sie verwandte Arbeitskraft ist die Statutenrevision Kinderspiel –„sie“ tönte mit meiner ai und der aj und ich patschten barfuß und hemdärmlich in den Gräben und auf den Wällen herum. Zur Arbeit bin ich bis jetzt noch nicht gekommen; meine Sehnsucht ist ebenso groß wie meine Furcht, daß es mir körperlich nicht gelingen wird; es muß sich nun zeigen, wie weit der Wille fähig ist, den Körper zu regieren; ich gehe jetzt regelmäßig um 11 ins Bett und stehe um 8 auf: die ersten Anfänge zu einer normalen Lebensweise. Selbstverständlich werde ich nur Theologie arbeiten. Mein Hunger nach Realitäten ist riesengroß, viel größer als das Schreckgespenst des Examens. Was das Denken „betrifft, so bin ich gespannt ob das ak Denkideal im Lehnstuhl hinterm Ofen“ wirklich fruchtbarer ist, als das al des Denkens aus Not. Bis jetzt neige ich Letzterem zu; denn der Reiz und das nötige Stück Nervosität fehlt bei |:am:|! Aber vielleicht ändert sich das noch, zumal mein Lehnstuhl noch so sehr einem Schaukelstuhl gleicht, daß es nur wieder eines äußeren Anstoßes | bedarf, um ihn in die gewagtesten Schwankungen zu setzen; nicht einmal vor dem Überkippen bei dieser Gelegenheit bin ich wohl ganz sicher. Aber dann mehr, wenn Tatsachen vorliegen!

Augenblicklich korrigiere ich die Druckbogen der an (Geschichte und Kählerpauken) und Statuten, später auch Komment. Im übrigen versende ich die Chargierten- und eigene Typs; ich habe auch zwei Menschentyps (großes Format von Heller) und zwei Wichstyps Was willst Du noch haben? Schreibe das noch vor Mitte September! Was macht der Rundbrief. Bitte schreibe mir noch einmal deine Reihenfolge; ich hatte eine etwas andere fürs Semester mit ao beraten, so daß die eines Ortes nicht zusammen drankommen. Mit ap habe ich nicht mehr gesprochen, wenn Du ihn mitnehmen willst, wofür ich sehr bin, so schreibe ihm noch mal extra! Im übrigen bin ich im Begriff, die Geburtstagsbriefe u. -Karten zu beantworten, deren ich zu meiner Rührung 30 empfing, gegen etwa 3 im Vorjahr. Und die Arbeit zu antworten ist schön, wenn dies die einzige Art des „Bezogenbleibens“ ist. Dem hast Du | auch Deine 7 Seiten zu verdanken. Schreib bald! Dies als ceterum censeo... Und nun leb herzlich wohl und sei gegrüßt

von Deinem treuen
aq.

Fußnoten, Anmerkungen

1Gemeint ist das 50. Straßburger Stiftungsfest. Dieses fand vom 22. bis zum 24. April 1907 statt.
2Das 63. Hallenser Stiftungsfest fand vom 7. bis zum 9. Juli 1907 statt.
3Karl Bornhäuser, der 1886 in den Hallenser Wingolf eingetreten war, war seit 1905 außerordentlicher Professor der Evangelischen Theologie an der Universität Halle, bevor er im Juni 1907 zum ordentlichen Professor für Praktische Theologie an die Universität Marburg berufen wurde. (Dazu siehe: [Anonym]: d, in: Wingolfs-Blätter 36 (1906/07), Heft 20, S. 190.) Was für eine Veranstaltung mit einer Rede Bornhäusers Tillich hier meint, bleibt unklar. In den Wingolfs-Blättern ließ sich hierüber nichts ermitteln. Eine Festveranstaltung zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Halle a.S. vom Juli 1907 ([Anonym]: e, in: Wingolfs-Blätter 36 (1906/07), Heft 22, S. 214.) kommt zeitlich nicht infrage.
4Gremium, das die Beschlüsse des Convents vorbereitet.
5Brandfux = Mitglied der Verbindung im 2. Semester.
6Jungbursch = Mitglied der Verbindung im 3. Semester.
7Als XX bezeichnet man einen Zweitchargierten oder Fuxmajor. Der XX ist für neu eingetretene Füxe (X) verantwortlich.

Register

aFritz, Alfred
bStraßburg
cBornhäuser, Karl
fLoofs, Friedrich
gHäring, Johann Theodor von
hLütgert, Wilhelm
iBornhäuser, Karl
jBornhäuser, Karl
kHalle (Saale)
lSchafft, Hermann
mAhrend, ???
nBalke, Hans
oTrotha/Halle a.S.
pRitter, Rudi
qHeinzelmann, Gerhard
rWedermann, ???
sHensmann, Amos
tJerusalem
uAhrend, ???
vBüchsel, Friedrich Hermann Martin
wHalle (Saale)
xRagué, Heinrich Samuel von
yHalle (Saale)
zTübingen
aaSeeberger, Elisabeth
abOettli, Bis auf Alexander den Grossen, 1905
acVan der Smissen, Gilbert
adMisdroy
aeLütgert, Wilhelm
afLütgert, Martha
agLütgert, Ruth
ahTillich, Johannes Oskar
aiSeeberger, Elisabeth
ajMeinhof, Heinrich
akLütgert, Wilhelm
alHeim, Karl
amLütgert, Wilhelm
anHallenser Wingolf, Zur Einführung in den Hallenser Wingolf 1894-1907: Geschichte, Prinzip, Ges..., 1907
aoBalke, Hans
ap???, Jonas
aqTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/143 (11)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
ohne Ort - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 20. August 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Alfred Fritz an Paul Tillich vom 19. September 1907

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz vom 28. August 1907, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00201.html, Zugriff am ????.

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