|
Stuttgart 20. VIII. 07.

Mein liebes Paulchen!

Eigentlich hatte ich mich hoch verschworen, Dir nicht mehr zu schreiben, bis ich erfahren habe, ob Du noch lebst oder ob Dich die Wallfische gefressen haben, aber nun ist heute Dein Geburtstag, da muß ich wohl oder übel mich einstellen. Meine herzlichen Glückwünsche sende ich Dir. Ja was soll ich Dir wünschen, Du hasts ja so gut, daß man Dir nichts zu wünschen weiß, als daß dies ferner so geht. Aber nun fällt mir ein: "Ruhe" will ich wünschen, Ruhe in jeder Beziehung, äußerlich mehr Einsamkeit u. daraus folgt ja auch innerliche Ruhe. Ich bin froh an dem stillen Sem. das hinter mir liegt u. Du gehst ja wohl einem solchen entgegen. Daß Albert nach Be kommt| ist richtig fein für Dich. Vielleicht kommen sonst noch ein paar nette Leute; so daß Du genügend Verkehr hast. Im übrigen sorge jetzt etwas mehr für Deine Gesundheit. Du muß dran denken, daß vor Dir noch ein hoffentlich langes Leben liegt, in dem Du auch was leisten sollst. Dazu ist zuerst Gesundheit nötig. Doch ich will nicht "moralisch" werden, sondern befehle Dir, obwohl Du jetzt wohl mündig bist, jeden Tag Deines neuen Lebensjahrs zeitig ins Bett zu gehen. – Sonst wünsche ich Dir recht viel Freude an der Theologie, auch wenns nun mehr nach dem Spruch "was werden wir sagen, was werden wir schreiben" geht. Es ist mir bisher noch nie langweilig geworden, selbst hebräisch horribile dictu ist mir lieb geworden. Doch ist eben schade, daß man nicht recht verweilen u. sich vertiefen kann in den Stoff, sondern weiter eilen muß. Aber, Kerl,| sie ist fein die heilige Theologie. Besonders da sie heute nicht "Mode" ist, ist sie mir lieb. Doch ein Plätzchen, wo man von den Massen verschont bleibt. Bei uns ist die Theologieflucht jetzt auch groß. Außer den Stiftlern, die alle gern Philologen werden möchten, sind es nur 9 Stadtstudierende. Es ist ja einesteils erschreckend; aber auch gut. Das Material ist nun sicher ein besseres. Ich weiß nicht, ob Du immer noch Theologie neben der lieben Philosophie als Stiefkind behandelst, ich hoffe es nicht. Man hat es jedenfalls in der Th. mehr mit Realitäten zu tun als in der Philosophie.

Ich bin zur Zt sehr stolz Euch Berlinern gegenüber. In Stuttgart tagt der internationale Sozialistenkongreß. In das feine Schwabenländle, so etwas sollte in Preußen passieren. Interessant ist es jedenfalls. Bei der Eröffnung des Kongresses sprachen| Bebel, Rosa die rote, Singer, Van der Velde. Als Eingangslied wurde das geschmackvolle Lied: "Eine feste Burg ist unser Bund" nach der Mel. des Lutherliedes gesungen. Es war sehr erhebend. Leider fielen mir immer die Worte der Lutherlieder ein u. die paßten nicht hieher oder sie paßten hieher:

"U. wenn die Welt voll Teufel wär".

Bebel ist eine sympathische Gestalt, Singer ein widerlicher Geselle, Rosa häßlich, aber gescheit. Neue Gedanken werden keine gebracht, aber ich bewundere die Ausdauer u. Arbeitskraft der Führer. Klara Zetkin übersetzt fortwährend in Französisch u. Englisch, fließend u. klar.

Sonst treibe ich nicht viel. Anfang letzter Woche kam ich hieher u. führte auch hier ein Junggesellenleben; Gestern kam nun meine Mutter wieder vom Schwarzwald. Aber die Wohnung ist recht öde. Daniel seh ich hie u. da. Seiner Mutter, die schwer krank war, geht’s jetzt besser.

Also nochmal viele Glückwünsche. Frl. Schwester bitte ich zu grüßen.
Dein Alfred.
    Entität nicht im Datensatz vorhanden

    Personen:

    Orte: