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Stuttgart, den 20. August 1907

Liebes Paulchen!

Ein Brief ist am wenigsten geschätzt, wenn er kommt als noch einer in der großen Herde der Geburtstagsbriefe. Aber ich kanns nicht verheben, Dir gerade diesmal auch ein wenig zu zeigen, daß ich mit dabei bin, Dir zu gratulieren für das was war, Dir Freude zu wünschen für die Stunde, die ist, u. Gottes Geleit fürs neue Jahr.

Viel Antrieb war hier auf dem Bopser in den letzten Tagen, sonst wäre ich wohl noch rechtzeitig gekommen. Wir stehen gerade in der Zeit, wo es mehr Obst gibt als sonst je im Jahr, vor allem Birnen Äpfel u. Pflaumen das muß alles geerntet und auf irgend eine Weise verwertet sein.| So kommts, daß ich mit Kirchen u. Dogmengeschichte immer noch im 2ten Jahrhundert – bei den Apologeten – stecke.

Außerdem ist ja hier gegenwärtig der Centralbetrieb der roten Internationale. Am Sonntag war großes "Meeting" auf dem Wasen bei Kannstatt. 6 Rednerpulte, wo nacheinander die ausländischen Herrschaften in allen Zungen redeten. Und alle verwunderten sich u. sprachen unter einander: Siehe wir hören ein jeglicher seine Sprache, darinnen wir geboren sind, Deutsche u. Polen, u. Niederländer u. die wir wohnen im russischen Reiche u. in Frankreich u. Hispanien, Italien u. England Österreich u. Amerika, Australien u. an| den Enden Afrika's bei Kapstadt u. Ausländer von Tokio, Juden u. Judengenossen, Krethi u. Plethi: wir hören sie mit unsern Zungen ihre großen Taten reden... Und sprach einer zum andern: Was will das werden; die andern aber hattens ihren Spott u. sprachen: Sie sind voll süssen Weins.

Und wenn mir die Apostelgeschichte nicht zu gut wäre da könnte ich an V.14 fortfahren: da trat auf Rosa, die Bittere, u. sprach etc. Sie werden sich wohl etwas entsetzt haben die ausländischen Herren; denn die Schwaben blieben ihrer Art treu: nur keine Aufregung.

Und so sehr Jaurès durch die Luft fuchtelte, so laut ein Pole wütete gegen Militarismus u. Kapitalismus, alles half nichts Nur die organsierte Gesellschaft erhob die Hüte zu einer kläglichen Leere, das übrige Volk, wohl 1/3, war nur begierig etwas| neues zu hören u. verstieg sich höchstens zu dem Eindruck: Was will dieser Lotterbube sagen, es siehet, als wolle er neue Götter verkündigen. Interessant waren mir die Gesichtstypen: Singer à la Kommerzialrat, eklig, Bebel sympathisch, Jaurès wie ein unmäßig gestikulierender Pastor. Rosa Luxemburg, eine widerliche kleine Judenfigur; ich glaube wenn sie alt genug ist, kann sie als Typus dienen für die edle Mirijam (du kennst doch Hypathia). Gegenwärtig beraten die Männlein jetzt, wobei die etwa 5 anwesenden Weibchen ebensoviel reden, als alle paar hundert Männer zusammen.Das kann Wie soll das werden im Frauenparlament?!

Doch ich habe mich zu lange damit aufgehalten. Gestern habe ich Heller 10 Minuten am Bahnhof gesehen. Meine Mutter ist noch immer krank. Es war sehr schlimm, Herzerweitung u. Schwäche – doch geht's langsam besser. Mit Alfred komme ich manchmal zusammen. Von Albert habe ich noch keine Nachricht. Unser Abschied war sehr plötzlich; ich wurde wegen meiner Mutter plötzlich heimgerufen. Wir haben uns, als er wegfuhr dann noch 1 Stunde lang auf d. Stuttgarter Bahnhof gesehen. Wenn du Vater Rhein siehst, so sag ihm ich warte immer noch auf Brief u. Typ.

Herzlich grüßt Dich Dein getr. Clds. Daniel Schubert.

Inzwischen herzlichen Glückwunsch u Gruß Bald mehr

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