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Stuttgart. 19. IX. 07.

Liebes Paulchen!

Es ist höchste Zeit, daß ich Dir für Deinen lb. Brief1] danke. Viel Zeit habe ich zwar nicht, da ich am nächsten Sonntag als Musterprediger mich betätigen will, über einen ziemlich öden Text.

Ich freue mich, daß Dirs gut geht. Nun wirst Du Deinen Hunger auf Realitätenge etwas gestillt haben in ernster Arbeit. Was Deine Erfahrungen über Schmuhlsches u. Heimsches Denkideal sind, möchte ich gerne sehen. Ich muß sagen, daß ich sehr zu Schmuhl neige, immer im Rennen durch die Jahrhunderte u. Systeme bleibt er eine geheime Sehnsucht! Das möchte ich genauer kennen lernen u. es kostet schon ziemliche Überwindung, wenigstens nicht in der Realenzyklopädie nachzusehen. Also die Liebe| zum Denken aus Liebe wäre schon da, aber leider ist mein Denken zur Zeit zwar nicht aus Not, aber mit Not. Wenn ich daran denken will, im Sommer Examen zu machen, muß ich mich zum theologischen Rennautomobil ausbilden, was kein Vergnügen ist, nicht nur wegen der damit verbundenen Sturzgefahr. Vorerst läuft mein Motor gut. Die letzte Woche durchrannte ich die orthodoxe Dogmatik u. platze bald vor Statibus, genera specialia et universalia, communicationes etc. Doch machte es mir Spaß, es ist ein schöner regelmäßiger Bau mit wundervoller Einteilung bis ca. Wie ein Studiosus einst den Hutterus lernte, muß er ein merkwürdig geordnetes Gedankenwerk im Kopf gehabt haben. Daraus erkläre ich mir die geringe Neigung zu Seitensprüngen in der orthodoxen Periode. Es lebt sich in diesem orthod. System so behaglich wie in den streng regelmäßigen Gärtenanlangen der gleichen Zeit. Einige Kuriosa habe ich doch noch angestaunt resurrectio consistit in reproductione| eiusdem quod per mortem cecidit, ex atomis illius corporis, hinc inde disjectus atque dissipatis.

Was für geduldige Schäfchen müssen die Studenten der damaligen Zeit gewesen sein.

Etwas andere Kost ist Beyschlags NT Theologie. Er hat absolut keine Hinneigung zur Orthodoxie. Nicht nur starke Polemik gegen Strafstellvertretung, sondern Verdrängung des ref. Rechtfertigungsgedankens ausder zu dem Zentrum der paulinischen Theologie u. Einsetzung des Heiligungsgedanken.Sondern Befreiung von der Sünde anstatt der reformat. Befreiung von der Schuld. Hales ist fein. Aber manchmal sieht man doch zu sehr das gemütliche Gesicht des seligen B. hinter Pauli Mantelzipfeln hervorgucken.

Meine Predigt ist mir diesmal schwer gefallen. Ich habe das Unglück einen Text behandeln zu müssen, der sich nicht ohne Moralpauken behandeln läßt (Mt. 21, 28 ff.) u. das hasse ich, besonders wenn man als jugendliches Bürschchen zum ersten Mal die Kanzel besteigt.

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Daß Du noch soviel Dankbarkeit u. Liebe geerntet hast, freut mich recht für Dich. In Halle, das wird wohl immer zu den temporibus aureis unseres Lebens gehören, wenns auch für mich einen recht traurigen Abschluß gefunden hat.

Deinen Körper schone! Deinen Geist lasse schönf brav am Gängelband gehen! Ach Kerl es ist doch schade; daß man nicht hie u da mit einander reden kann. Gerade jetzt wo alles Erleben auf Bücher beschränkt ist, empfindet man es recht, denn da sind die Leute selten, denen man mitteilen kann u. das ist nun mal nötig. – War nicht Dein Leibfux in Misdroy bei Dir. Was macht er denn? Es ist schade, daß Ihr schon auseinander seid. – Der Rundbrief ist jetzt wohl bei Dir gewesen. Wegen der Neuordnung fürchte ich nur das Porto, wenn es so oft sie hin u. her geht. Auch verliert man viel Zeit. – Gestern war Philistertag. Ich saß sehr nett mit Wergenthaler u. Häfele zusammen. Sonst hätte ich mich fremd dort gefühlt. Es ist traurig.

Natürlich möchte ich beide Typs, das als X u. das als Mensch.

Sei herzlich gegrüßt von Deinem
tr. Alfred.
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    • Beyschlag, Willibald. Neutestamentliche Theologie oder Geschichtliche Darstellung der Lehren Jesu und des Urchristenthums nach den neutestamentlichen Quellen, Bd. 1. Halle: E. Strien 1891. 
    • Beyschlag, Willibald. Neutestamentliche Theologie oder Geschichtliche Darstellung der Lehren Jesu und des Urchristenthums nach den neutestamentlichen Quellen, Bd. 2. Halle: E. Strien 1892.