Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 26. August 1907

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Der editierte Text

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a, 26.VIII.07 Schafft, c. th
Lieber b,

Schönen Dank für Deine Epistula1. Verzeih, wenn ich es nicht unterlasse, Dir eine Karte, die an dem Tage wo Dein Brief ankam abgehen sollte, – Dir doch noch zu schicken. Ich hoffe, daß ich bei den unheimlichen Vorsätzen – genau die cs – in Bezug auf eine Stunde tägliche Korrespondenz, die natürl. ganz unmöglich einhaltbar sind, niemals wieder eine derartige Karte nötig haben werde. Die Besichtigung des d Buches scheint Dich noch zu beschäftigen, da es bislang noch nicht hier ist; aber ich schreibe doch heute schnell diesen Gruß, um für die nächste Zeit, in der ich mich ganz silbernen Hochzeitsvorbereitungen widmen möchte, entlastet zu| sein. Ich bemerke, daß es Dir absolut nicht schaden kann, wenn Du 2x nacheinander schreibst – so wie ich es im verflossenen Semester besorgt habe. –

Deine Fantasie vom Dom, dem Allerheiligsten u. den Vorhöfen habe ich nicht ohne Rührung nachzuempfinden versucht. – Mit geringem Erfolg. Es sei denn, daß Du den jüdischen Tempel vor seiner Reinigung im Sinne gehabt hättest; aber dann stimmts wieder nicht, da in den Vorhöfen das Spektakel am größten u. im Allerheiligsten völlige Dunkelheit war. Ich bin gespannt, ob Du noch feinere Architektur oder sonstige interessante u. differenzierte Nuancen bemerken lernst durch das Fernrohr der Korrespondenz. Wenn Du den Mailänder Dom im Sinne hattest, dann| ist die Ausbeute von außen bedeutend reicher als von ihnnen. Wie lange wird's dauern bis Du singst – nur eine hohe Säule zeugt von versunkener Pracht... –

D. h. es wird so, daß Dein Hals sachte aber bestimmt herumgedreht wird! Es geht unheimlich schnell – andere Gesichtspunkte, andere Interessen etc. – das einzige, was hoffentlich bleibt ist das Prinzip und ein paar Menschen. Aber auch deren Zahl schrumpft zusammen. Ich sehe schon die Zeit voraus, wo e, {Sbretz} und Du – event. f die einzigen sind neben dem Rundbrief. Es ist auch gut so, denn man kann später nicht so viel brauchen. – für Freundschaftsverkehr 1 Stunde täglich – das ist ein köstlich-komischer Gedanke. Wenn du immer im Kreis der Universität bleibst – Dann mags vielleicht gehen. – Hoffentlich hast Du Dich in g erholt. Du schreibst nichts davon. h, denke| bitte ernst daran, daß es Deine Pflicht ist – einesteils Dich streng in Zucht zu nehmen u. Deinen Nerven nichts nachzugeben, sonst wirst Du ein unglücklicher Sonderling u. machst nebenbei Deine event. Frau unglücklich – andernteils ernstlich Deiner Gesundheit zu leben. Ich habe i sehr abgeraten vom Aktiv werden. Geh' Du mit gutem Beispiel voran, das Berl. Band bekommst Du so doch auch. – Schreib mir armen Dorfpfarrer etwas von deiner wissenschaftlichen Arbeit. Erzähl mir auch wie es Euch geht. Was macht Dein j? Hat dir k mal geschrieben? Ich wußte garnicht, daß sein Vater lic. Dr. war! Du? – l Person interessiert mich, wie Du weißt. Direkt erfahre ich nichts, also bin ich Dir über jeweilige Nachricht dankbar. Der junge Rundbrief ist ja fein. Stilblüten erbitte ich auch!| Mein Dasein hier: Predigt, Jünglingsverein Kindergottesdienst, Krankenseelsorge! Kranke besuchen – will gelernt sein. Vom Tode reden, wenn man ihn selbst erst nur schwach durchlebt hat – auf das Jenseitige das ganze Zielen u. Trachten hinlenken, wenn man selbst noch nicht immer sich zum Abscheiden bereit weiß – ist schwer. Man lehrt die Kranken nichts, aber man lernt mit ihnen von ihnen. Neulich – ein Mann – auf schmutzstarrendem Bett – frühere Bierbrauer – halbangezogen, 2 Kinder im 2ten Bett – auch dreckig eines angesteckt: die Frau auswärts um ihn nicht pflegen zu müssen. Er selbst Lungen u. Rückenmarkstuberkulose ohne Arzt, ohne ordentliches Essen. – Furchtbare Schmerzen, Hals, Magen, alle Zähne! Mund ganz blutig;– kurz ein schreckliches| Bild. – Da steht man dann am Bett – mit der großen Weisheit – Äußerlich helfen kann man nicht. Die Verbitterung spricht dem Ärmsten aus dem Gesicht... Gott sei Dank, daß m oder das NT bei der Hand sind! Aber schwer bleibt so etwas doch! Oder ein 82jähriger Alter – mit gebrochener Rippe, aber auf der Besserung – man fragt nach Schmerzen – erhält die Antwort – wenig am Leib – aber an der Seele, die Gedanken an den Tod lassen ihm keine Ruhe: Ehebruch u. Wollust liegen auf ihm. Das kommt heraus wie aus der Pistole geschossen – 82 u. 23!! – Was ist man da im Bewußtsein seiner Kleinheit – Oder eine Frau – sie lag schon so als deine Schwester hier lag, Unterleibstuberklen – sie sehnt sich nach den Tod u. er kommt nicht. Gerade an dem Krankenbett überkommt einen manchmal eine wunderbare| Stumpfheit, das Gefühl der gänzlichen Unbarmherzigkeit – eigentlich solchem Leiden gegenüber als ein so minderwertiger grüner {¿¿¿} zu sagen – u es will einem manchmal wie Phrase dünken. da ist's eben nur möglich, daß man als Lernender da ist u. nimmt. Denn freilich kann man Segen haben. Die ganze Theologie schrumpft in solchen Momenten zusammen auf die paar centralen Gedanken. Liberalismus kann da einfach nicht aufkommen – sofern er Pelagianismus oder minderwertiger Gottesgedanke ist. Sterben müssen ist eben doch keine Kleinigkeit...

Meine Jünglinge machen mir Freude. Ich hoffe mit der Zeit engere Fühlung mit ihnen zu kriegen. Eine Schwierigkeit durch Couleurtragen und Alkohol gibts bei uns nicht. Das ist eine ganz ungeheure Erleichterung. Mit allen fühlt man| sich verbunden weil das δι ενος παντα wirklich gemeinsame Grundlage ist. Mehr als je scheinen mir Bibelkränzchen u. ähnl. für den {Weg-Gang} außerordentlich wichtig. –

Meinem corpus geht's noch nicht gut. Weißt du, was "Einlauf" ist – ich denke – das ist mein täglich Brod. Aber meine Därme wollen noch nicht – d. h. ich hoffe von Tag zu Tag auf Besserung. – Das unangenehme sind beständige Kopfschmerzen als Begleiterscheinung.

Nun leb wohl mein alter lieber Junge! Schreib mir bald – u. viel!! Lesen kann ich noch.

Den Deinigen herzl. Grüße
Dir vor Allen in Tr Dein n

Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.

Register

aHersfeld
bTillich, Paul
cHanffstengel, Gottfried von
dVan der Smissen, Gilbert
eFritz, Alfred
fKilger, Albert
gMisdroy
hTillich, Paul
iKilger, Albert
jMeinhof, Heinrich
kRöhricht, Eberhard
lRöhricht, Eberhard
mGerhard, Johann
nSchafft, Hermann

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 G
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Hersfeld - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 23. Juni 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 11. November 1907

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 26. August 1907, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00200.html, Zugriff am ????.

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