|
Bremervörde, 22. III. 07.

Lieber Paul!

Lange habe ich auf den versprochenen Brief erwartet, Du hast es wohl vergessen. Aber ich muß mich aussprechen, Dir mein Herz ausschütten.

"Wie man mich beurteilt, so bin ich", sagte am Schluß des Semesters Daniel mehr als einmal und erzählte dann von seiner Erfahrung. Nicht ganz so ist es, aber ein großes Stück Wahrheit ist dran, Du bist x fürs nächste Semester, würde man aber Dich ignorieren, oder nur als Drahtpuppe behandeln, so wärst Dus auch. D.h. ich nehme Dich als Beispiel, gerade Du würdest Dich eben nicht so behandeln| lassen, aber nicht jeder ist so wie Du, nur wenige sind so unabhängig von dem Urteil anderer. In dieser Lage bin ich. Ich fasse meine Aufgabe im nächsten Semester sehr hoch, vielleicht höher als Ihr bei meiner Aufstellung es gefordert habt; ich habe das Empfinden, als wäre ich nur deshalb gewählt, weil ich der einzige bin, der soso wie Hallenser Partei vertritt und zugleich mit den andern gut auskommt. Also nur als Drahtpuppe bin ich im A.H.C.D So dachte das AHC des vorigen Semesters, nur deshalb bin ich doch auch zum Leibburschberechtigten aufgestellt. Wäre ich nicht im AHC als Stimmrich nötig, so wäre ich auch dazu wohl kaum aufgestellt. Diese Empfindung hatte ich ganz deutlich am Schluß des vorigen Semesters. Was mich dazu berechtigte, sind oft nur vielleicht| unbeabsichtigte Äußerungen vom xx oder von Dir gewesen; auch wohl andere, Anfänger der Orthodoxen, ließen das, wenn auch unabsichtlich, merken. Ich habe eigentlich unter solchen Äußerungen gelitten, Anöden vertrage ich sehr gut, aber das System darin betrübte mich. Nicht daß ich eingeschnappt wäre – das habt Ihr falsch verstanden – sondern das Bewußtstein, nur Drahtpuppe zu sein, war mir gräßlich. Wozu schreibe ich das alles, ich bin offenbar sehr von mir überzogen? Ganz im Gegenteil, Du sollst mich nun nicht etwa als großes lumen behandeln, als ob ich sehr selbständige, bedeutende Ansichten entwickelten könnte; nur das möchte ich, daß man mich wie andere behandelt, daß man nicht glaubt, mich behandeln zu können wie man will, weil ich die Hallenser Sache vertrete. Ihr könnten Euch mal| getäuscht haben. Ihr glaubt nicht, wie schlecht ich bin, wie rachsüchtig u jähzornig ich werden kann.

Du hast mich nun ganz in der Hand, beute es aus, wenn Du willst, Du siehst aber, wie ganz Du mein Vertrauen hast. Keinem andern könnte ich so schreiben, sagen könnte ich das nie, Verschlossenheit in allem, was mein Inneres angeht, ist auch einer meiner Fehler, vielleicht durchschaust Du mich auch ohne das; aber es tut einem selbst doch wohl, sich ausgesprochen zu haben.

Was soll ich noch schreiben, nochmals von mir? Nach Ostern denke ich Wilm v. d. Smissen auf einige Tage hier zu sehen oder W. Schetelig.

Meine Verwandten- u ll Brr-Reise habe ich ja beendet. Bei Meyersiecks war es ganz famos. Besonders anziehend war für mich das tiefe u rege| Interesse, das beide Eltern an allen Wingolfsfragen nahmen. Bei uns fehlt das ganz, meine Mutter ist nicht gerade sehr eingenommen vom Wingolf, ja schätzt überhaupt studentische Art, die sich in etwas ungezwungenen Ausdrücken – burschikos nennt sie es –, sie ist von der alten feinen Art, von unserem Tisch würde sie entsetzt sein. Das Pfarrhaus in Ubbedissen hat mit jenen Bewohnern in dem treuen schwarz-weiß-goldenen Wachter, der auf den Couleurpfusch hört, so etwas anhimmelndes, altmodisches, ruhiges. Die Gegend ist wunderschön, im Sommer könnte man die schönsten Touren machen. Leider war ich nur 1 1/2 Tage dort. Mit Joh. M. fuhr ich dann nach Bielefeld, und wir besahen nach einem kurzen Besuch bei Hessel, der sich bei der Bahnfahrt| Influenza geholt hatte, die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, die auf mich einen geradezu überwältigenden Eindruck machten. Das ist ein Lebenswerk, das sich sehen lassen kann, wenige können derartiges aufweisen. Dort ist wirklich ein gewaltiger Fortschritt in der inneren Mission, der da gemacht ist, und täglich wird die Sache weiterausgebaut. Engelmann führte uns hindurch, wir konnten natürlich nur einen oberflächlichen Eindruck von allem bekommen. Einzelne Anstalten besahen wir auch innen, Engelmann, dessen Vater Hausvater auf einer Bandstation ist, wo ca 40 Epileptische beschäftigt werden, führte uns herum, er kannte natürlich fast alle Einrichtungen und auch die meisten Leute. 4000 Einwohner hat Bethel mit Kranken u Gesunden.

|

Von Freitag bis zum Sonnabend der andern Woche war ich dann in Lindtorf bei meinem Onkel, Pastor Heintze. Wie unsere ganze Familie, so ist er besonders ein fanatischer Welfe, der die preussische Regierung für russisch erklärt und den Kaiser einen 2. Vogtlern nennt. Besonders die Polenpolitik u die Kolonialpolitik sind ihm verhaßt, den Christlich-sozialen ist er auch ganz besonders übel gesinnt. Natürlich ist er auch eifriger Lutheraner, und es ist ihm garnicht lieb, daß ich in Halle bin, wo eine verwässerte Theologie herrscht. Als ich da war, wurde gerade der 300 jähr. Geburtstag Paul Gerhardts gefeiert; und besonders sein Märtyrertum für den lutherischen Glauben hervorgehoben. – Dabei trat bei meinem Onkel wieder deutlich die prinzipielle Abneigung gegen alles, was preussisch heißt, hervor. Da er sich| aber über andere Ansichten in beiden Fragen sehr aufregt u keinen Widerspruch ertragen kann, habe ich ihm nur ab u zu widersprochen. Seine ganze Familie denkt auch wie er, nur seine beiden Söhne – der eine ist Wingolfit – sind nicht welfisch. Von Lindtorf aus besuche ich auch Schreiber, der gerade von Euch wiedergekommen war, Hessig war auch bei ihm, es war richtig gemütlich. Mit seiner Schwester u einem kleinen Bruder spielten wir Ball, leider bekam mir das sehr schlecht, ich mußte am folgenden Tag im Bett bleiben, und eine anhaltende Erkältung, Husten und Schnupfen war die Folge. Noch jetzt sind die äußeren Zeichen an Nase u Oberlippe vorhanden, sodaß ich mich kaum sehen lassen darf.

Herzliche Grüße sendet Dir Dein treuer
G. v. Hanffstengel. U. A. w. g.

Der Protest von Bonn gegen Deinen Artikel ist Quittung auf unser Eintreten für Kalfhaus, den Eindruck habe ich bekommen.