Mein lieber Alfred!
Fast wage ich es nicht, auf eine Antwort auf Deinen letzten Brief mich einzulassen,
denn Dein "Bombardement" hat mir in der Tat Hören und Sehen geraubt. Wenn ich erst
so
weit wäre, wie Du, und nach überstandener "Not" mich mit Begeisterung in den Geist
stürzen könnte, der von Schlatter auf Dich einströmt, nicht von Seeberg auf mich; denn der ist
"modernbibe(!) positiv", d. h. weder-noch, und äußerst
pathetisch, was in meinem Alter auf die Nerven fällt (abgesehen von dem
hahnebüchenden Möv, der Albert
und mich schon mehrmals der Ohnmacht nahe gebracht hat). Das ist also keine "reine
Freude" ( >Witte!) und im
besten Fall der Tiefpunkt des Tages. Eine viel reinere Freude ist für mich die
Kirchengeschichte, für die bis zum Ende der alten K.-G. jetzt Eindrücke allgemeiner
Schächtelchen in meiner Großhirnrinde sind, wenn auch die Füllung bis jetzt nur aus
allerhand wirren und Loofs-Kurtzschen Brocken besteht. Wie
ichjet als |
Tertianer ehrfurchtsvoll staunend die
Köpfe der Primaner anstarrte, in der Voraussetzung, daß alle unregelmäßigen
griechischenW Verben darin sind, so würde ich es jetzt mit jedem
machen, von dem ich glaubte, daß er den arianischen, donatistischen und
monophysitischen Streit mit sämtlichen Konzilien und Kerls aufsagen könnte. Und doch
muß mein eigner Kopf bald Gegenstand solcher Bewunderung sein!! Vor der
Dogmengeschichte stehe ich, wie die Kuh vorm neuen Tor, und da es mir Seeberg scheinbar nicht öffnen
will, so muß ich es wohl selbst einrennen, was nicht ganz ohne einige "Brüche"
abgehen wird. – Daß ich in der Einleitung bis zum Ende der Briefe bald gedrungen bin,
ist mir eine große Erleichterung, denn es mordet diese Arbeit geradezu meine Zeit,
so
schön sie auch an sich ist. Ist es nicht richtig gedacht, daß man dem
wissenschaftlichen Urteil der Leute mehr trauen darf, denen es gleichgültig für ihre
Dogmatik ist, ob ein Brief echt ist oder nicht, als denen, denen man das Herz bluten
sieht, wenn sie die kleinste Kritik an der Tradition üben müssen? Daß man schließlich
mit einigem Geschick jede Tradition retten kann, ist klar; |
aber daß manbei alsoBr befangener Arbeit mehr auf die
Finger sehen muß, ist auch klar. Eine gewisse Ausnahme bildet vielleicht die
Evangelienkritik, wo auch die Negation ein dogmatisches Interesse hat, obgleich das
in hohem Grade ausgeschaltet werden kann. So habe ich neulich Albert gegenüber vertreten, daß
es mir, abgesehen von einem "rudimentären Traditionalismus im Gefühl", gleichgültig
wäre, von wem das Johannesevangelium stammt. Ich halte das für den einzig
evangelischen Standpunkt, so schwer er auch in manchem zu erringen ist. (Daß Jülicher in "Johannes" platt
ist, glaube ich auch.). – Wittenahet
↓ist↓ nun, nachdem sich seine frühere Philöse nach theatralischen Krachscenen bei uns beklagt hatte, daß er "nicht
normal" sei, nach