Der editierte Text

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Mein lieber a!

Fast wage ich es nicht, auf eine Antwort auf Deinen letzten Brief mich einzulassen, denn Dein "Bombardement" hat mir in der Tat Hören und Sehen geraubt. Wenn ich erst so weit wäre, wie Du, und nach überstandener "Not" mich mit Begeisterung in den Geist stürzen könnte, der von b auf Dich einströmt, nicht von c auf mich; denn der ist "modern bibe(!) positiv", d. h. weder-noch, und äußerst pathetisch, was in meinem Alter auf die Nerven fällt (abgesehen von dem hahnebüchenden Möv, der d und mich schon mehrmals der Ohnmacht nahe gebracht hat). Das ist also keine "reine Freude" (e!) und im besten Fall der Tiefpunkt des Tages. Eine viel reinere Freude ist für mich die Kirchengeschichte, für die bis zum Ende der alten K.-G. jetzt Eindrücke allgemeiner Schächtelchen in meiner Großhirnrinde sind, wenn auch die Füllung bis jetzt nur aus allerhand wirren und f-g Brocken besteht. Wie ich jet als | Tertianer ehrfurchtsvoll staunend die Köpfe der Primaner anstarrte, in der Voraussetzung, daß alle unregelmäßigen griechischen W Verben darin sind, so würde ich es jetzt mit jedem machen, von dem ich glaubte, daß er den arianischen, donatistischen und monophysitischen Streit mit sämtlichen Konzilien und Kerls aufsagen könnte. Und doch muß mein eigner Kopf bald Gegenstand solcher Bewunderung sein!! Vor der Dogmengeschichte stehe ich, wie die Kuh vorm neuen Tor, und da es mir h scheinbar nicht öffnen will, so muß ich es wohl selbst einrennen, was nicht ganz ohne einige "Brüche" abgehen wird. – Daß ich in der Einleitung bis zum Ende der Briefe bald gedrungen bin, ist mir eine große Erleichterung, denn es mordet diese Arbeit geradezu meine Zeit, so schön sie auch an sich ist. Ist es nicht richtig gedacht, daß man dem wissenschaftlichen Urteil der Leute mehr trauen darf, denen es gleichgültig für ihre Dogmatik ist, ob ein Brief echt ist oder nicht, als denen, denen man das Herz bluten sieht, wenn sie die kleinste Kritik an der Tradition üben müssen? Daß man schließlich mit einigem Geschick jede Tradition retten kann, ist klar; | aber daß man bei also Be befangener Arbeit mehr auf die Finger sehen muß, ist auch klar. Eine gewisse Ausnahme bildet vielleicht die Evangelienkritik, wo auch die Negation ein dogmatisches Interesse hat, obgleich das in hohem Grade ausgeschaltet werden kann. So habe ich neulich i gegenüber vertreten, daß es mir, abgesehen von einem "rudimentären Traditionalismus im Gefühl", gleichgültig wäre, von wem das Johannesevangelium stammt. Ich halte das für den einzig evangelischen Standpunkt, so schwer er auch in manchem zu erringen ist. (Daß j in "Johannes" platt ist, glaube ich auch.). – k nahet |:ist:| nun, nachdem sich seine frühere Philöse nach theatralischen Krachscenen bei uns beklagt hatte, daß er "nicht normal" sei, nach Neuenburgerstr. 14a gezogen! Er ist komisch, proletig, begabt wie immer. Heute ist er mit l im m, (ich hatte "Schnupfen"). Was sagst Du zu dem Erlanger Stunk? Es war eine Übereilung und Unvorsichtigkeit von n! Wer weiß, was daraus noch werden kann! Ich habe sie angeschimpft; Denk |:(!):| hier in o ist man sehr gegen sie! – Was den Rundbrief betrifft, so wollte ich Dich noch bitten, die leeren Bogen an Hermann zu | schicken; er befindet sich jetzt nach seinem letzten Brief in ziemlich gedrückter Stimmung und jede derartige Erquickung wird ihm gut tun. Ich denke, Du kannst das ohne "Konvent" tun; denn erstens würdens alle genehmigen und zweitens wissen sie’s nicht und drittens brauchen sie’s nicht zu wissen! – Eine Herzerquickung ist Vater Rhein, der in seinen "liberalisierenden Tendenzen" in dauernder Spannung zu seinem alten Herrn steht und uns das mit wahrhaft rührender Offenheit erzählt; er ist doch trotz aller unvergänglichen Komik ein Schlemmerkerl! – Die 7 Füxe sind nun glücklich untergebracht und wir können uns ihnen jetzt ohne Lebensgefahr nähern. Einige scheinen nicht ungebegabt; neulich bin ich ins A-H-C1 gekommen, nachdem auf einer vorhergehenden d p-c2-Debatte konstatiert hät war, daß meine Hallenser Orthodoxie sich bis jetzt als unschädlich erwiesen hätte (Konventsgeheimnis!) – Wenn ich aus dem Zustand intellektueller Apathie erwacht sein werde, sollst Du einen Deinem ähnlichen Brief erhalten: Manches an p ist keinesweg koscher! Aber ich kann jetzt nicht! Denken ist schwer. Heute kam q durch. Nach r, wo er 11/2 Jahr mindestens Inspektor am Predigerseminar ist; O s! O t! O Ritter! O Frau3! u läßt herzlich grüßen! Sage v, daß ich den Berliner Wingolf fast schon lieb hätte! Er solls mit w ebenso machen! Was macht Dein x? Wie steht er sich mit seinem Leibburschen? Oh y! Wenn Du ihn siehst grüße ihn so herzlich, wie möglich! Dito z und aa. Einen Brief bekommt er bald ich schreibe jetzt gern!!! Sage ihm er soll sich auch darin ein Vorbild nehmen! (Du auch!)

Herzlichen Gruß

Fußnoten, Anmerkungen

1Gremium, das die Beschlüsse des Convents vorbereitet.
2Konvent zur Besprechung personeller Angelegenheiten.
3Bezeichnung für einen Mitbewohner.

Register

aFritz, Alfred
bSchlatter, Adolf
cSeeberg, Reinhold
dKilger, Albert
eWitte, Hermann
fLoofs, Friedrich
gKurtz, Johann Heinrich
hSeeberg, Reinhold
iKilger, Albert
jJülicher, Adolf
kWitte, Hermann
lKilger, Albert
mGrunewald
nHalle (Saale)
oBerlin
pSchlatter, Adolf
qBüchsel, Friedrich Hermann Martin
rSoest
sMedicus, Fritz
tHalle (Saale)
uKilger, Albert
vBertheau, Lorenz
wTübingen
xFritz, Immanuel
yBanzhaf, Friedrich
zSchetelig, Wilhelm
aa???, Daniel

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008C
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz von 1907
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz von 1907 (Frühling)

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz von 1907 (Herbst), in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00135.html, Zugriff am ????.

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L00135.pdf