Brief von Paul Tillich an Alfred Fritz von 1907

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Lieber Alfred!

So schwer mir sonst das Briefeschreiben wird, so sehr habe ich mich darauf gefreut heute einmal 2 Stunden Zeit dazu zu haben, allerdings keine Minute mehr! Wieweit ich zurückgreifen müßte, um den Faden der Korrespondenz in lückenlosen Parallelismus zum Faden der Ereignisse zu bringen, was ja wohl das Ideal ist, das kann ich nicht mehr sagen. Im Voraus möchte ich bemerken, daß der "Persönlichkeitsgehalt", den ein Brief ja mitteilen soll, rein sachlich orientiert ist. Und diese Bemerkung, die man auf Deutsch eine Moralische nennt, ist zugleich sein Hauptinhalt. Die vollkommene Unfähigkeit, neben den sachlichen Beziehungen, Personen, etc. Geist zur Füllung des sich allmählich entwickelnden inneren Hohlraums zu bekommen, knickt mich einigermaßen. | Natürlich meine ich keinen Moralischen im allgemeinen Sinne, sondern nur die Leere, die die einseitige Gedanken-Gefühls- und Willenskoncentration auf die Verbindung und ihre sachlichen Beziehungen, notwendig produciert. Ich denke mir, daß ich gerade darin zuviel habe, worin Ihr Mangel leidet und umgekehrt. Aber trotzdem kann man wohl auch auf diesen Zustand den Pflichtgedanken anwenden, ganz abgesehen von dem vielen, was man natürlich davon hat. Der Zwang, geben zu müssen ist schön, solange er verbunden ist mit dem Bewußtsein der Fähigkeit und er ist drückend, sobald er auf Mangel an Besitz stößt. Und in dieser Zwitterstellung befinde ich mich augenblicklich. Viel Freude machen mir z. B. die Pauken, Konvente, selbst die Statutenrevision, u. s. w. Daß sie aber in so großer Fülle kommen, daß Zeit und Kraft dadurch fast ganz in Anspruch genommen ist, das ist das Traurige dabei. Darum wird mir der persönliche Verkehr bei Kaffon etc. nicht ganz leicht. Soll und Haben! - Entschuldige diese Auseinandersetzung, | aber sie war mir mal ganz lieb. Was sagst Du dazu? –
Doch nun der Beweis, d.h. die Tatsachen! Was die Wartburg betrifft, so bin ich natürlich durchaus pessimistisch. Nichts haben sie kapiert. Kein Mensch weiß warum der Aktivitätszwang aufgehoben ist, kein Mensch weiß, was wir wollen, alles pennt weiter, nur noch ungehinderter! Das Wingolfsideal, soweit es nicht Phrase ist, kennt man selbst in Halle kaum mehr. (Ich meine in Beziehung auf den Bund.) Darum war es mir lieb, als die Heidelberger Unverschämtheit Gelegenheit zum Necken und – unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit – eventuell noch zum Krachen gab. Heute kam ein Brief v. Hdg, worin es sich wundert, daß Halle nicht schon längst die "Konsequenz" gezogen hätte. In Bezug auf mein θυμός bin ich durchaus damit einverstanden. Das noch schwankende πνεῦμα wird sich bei der ersten, wirklich passenden Gelegen| heit auch dafür entscheiden! – Was unsre Konvente betrifft, so wirst Du schon darüber Berichte gehört haben. Ich stehe ja da auf dem Standpunkt, daß der Konvent auch ein Ort zur Aussprache ist, und zwar der geeignetste. Infolge dessen haben wir nach der Wartburg im Anschluß an die Pauke von Ph. Bertheau sämtliche praktischen Verbindungsorthodoxismen durchgesprochen und bei dieser Gelegenheit verschiedene Augiasställe gründlich gereinigt. Die Luft, auch "der Wind von Gryps" ist jetzt einigermaßen rein. Und Du schreibst ja selber, daß Halle jetzt bleiben muß! – Das geistige Leben wuchert jetzt üppig empor in den verschiedenartigsten G.-C.s und begabten Kaffons etc. – Gestern war Trauerkneipe für Scheurich, sehr feierlich und würdig, aber für mich innerlich sehr anstrengend. Sonntag war ich nach Frankfurt gefahren. Um 10 früh Montag war die Beerdigung, wo ich auch eine| kurze Pauke hatte und dann Band und Kouleur nachwarf. Es ist zu traurig! Es ist ziemlich sicher, daß schon in seinem Fuxmajorsemester die Wurzeln der Krankheit liegen. Sicher waren wir oft nicht ganz gerecht gegen ihn! – Heute habe ich wieder Vertretersitzung der 4 Gruppen auf meiner Bude betreffend Fackelzugs. Bis jetzt sehr zahme Leute. Lose Buben und Katholiken hauen sich und wir spielen den tertius gaudens. – Sicher sehen wir uns also wieder in Straßburg; und ich hoffe, daß Du aus Dank zum Stiftungsfest kommen wirst. Diesmal gibts keine Ausrede! Und wenn Du deine zu haben glaubst, so schreibe sie zur Widerlegung, aber sofort!! Was als solche nicht gilt, weißt Du ja! – Daß ich Dienstag in Hersfeld| war, hat Dir wohl Hermann schon geschrieben.1] Es war eine Erquickung für Leib und Seele! _
Mein Leibfux ist ein famoser Kerl, aber nicht gerade einfach; er hat sehr viel mit sich zu tun, ist leidenschaftlich und äußerst empfindsam, ohne davon viel zu sagen, so daß die plötzlichen, oft unerwarteten Ausbrüche schwer zu behandeln und zu verstehen sind. Leider kann ich nicht so oft mit ihm zusammen sein, wie ich es gern täte. Vor allem aber lieben wir uns gegenseitig sehr! –
Mit meiner Frau stehe ich sehr gut, nur verbietet sie mir zu viel. Famos ist das Verhältnis der drei Verehrlichen, namentlich mit dem Fuxmajor wird alles vorher besprochen. Spatz, den ich immer lieber gewinne (intensiver Verkehr), läßt Euch beide herzlichst grüßen! –| Sage bitte Daniel, ob er etwas von den alten Büchern im A-H-C-Zimmer mit den alten Silhouetten (Orthogr. schwach!) weiß! Er hat sie gehabt, jetzt sind sie verschwunden! – An Albert speciell: Er soll sich endlich entscheiden und die moralische Tat tun, mir mitzuteilen, daß er im nächsten Semester nach Berlin kommt. Johannes ist ganz mit einverstanden! Ich gehe noch mal so erleichtert aus dem Semester, wenn ich es genau weiß! Bitte recht schnell und wäre es auch nur eine Postkarte mit dem Wörtchen "ja"!! Im übrigen ist der Brief an Euch beide gerichtet und gemeinsam zu lesen! Ob ich vor dem Stiftungsfest noch zu einem komme, weiß ich nicht!

Bis dahin herzliche Grüße
Euer treuer Paul
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