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Hersfeld, den 13. Juli 07. Sonnabend - Abend

Lieber Paul,

heute Morgen ist er nach Süden weitergedampft, der tertius – und wir zwei beide sind nun in gleicher Situation. Das Gefühl der Leere, nachdem es gerade wieder so schön war – erfüllt uns und man schwingt sich höchstens zu tragikkomischen Reflexionen über die Idealität des Kommens auf. – Ungesunde Passivität – nur ¿¿¿ – will uns doch nicht hinnehmen und deshalb schreibe ich Dir und versuche Deine Hand| zu haschen um die Stimmung nicht nutzlos zu verbrauchen, sondern mit Dir sie zuzubringen u. zu verschwätzen – zumal ich einiges auf dem Herzen habe.

Sein Hiersein – war für mich eine große Freude. Das Wetter infam. – Donnerstag Abend gingen wir noch zum Garten auf dem Berge und hockten auf einer Bank. 200 Meter weiter hinter Erbsenbeeten unsichtbar auch eine andre unserer Abschiedfeiernden Schwestern! Abends haben wir im roten Zimmer bei 3 Lampions Abschied von Deinem Schwesterlein gefeiert. Derweilen hast Du sie schon in Augenschein genommen u. sie hat Dir| wohl auch manches aus diesem barbarischen Land erzählt. Wir können uns, sonderlich meine Schwester noch gar nicht recht an den Gedanken gewöhnen, daß sie nicht mehr da sein soll;– sie kann sich merkwürdigerweise garnicht vorstellen, daß sie dagewesen ist.. Na, sie wird zu Ostern eventuell wieder kommen um bei mir Kochen zu lernen. Vielleicht verstehen wir beide uns dann auch besser. Denn ich glaube – vielleicht hat sie sich Dir gegenüber darüber geäußert, daß ich ihr ein wenig unheimlich bin. Das hat seinen Grund in einer gewissen Unsicherheit in der Stellung. Mit meinen Brüdern war es ein natürliches Kennen Lernen – wie mit meinen| Eltern – Bei mir war das Bekanntsein hinderlich – insofern man sich unwillkürlich näher stehend fühlte und doch in den Formen verkehrte, (gnädiges Fräulein, Herr Kandidat) die Fremderen entsprechen.– So erstaunte man bei der kühlen Form u. unwillkürlich wurde der Verkehr inhaltlich fremder–; das war ein gewisses Hemmnis der Ungezwungenheit. Eine andere Schwierigkeiten lag darin daß ich beständig hin u. her reiste u. selbst innerlich unter Zerfahrenheit schwer zu tragen hatte – durch das beständige hin u. her. So müßte mein Verkehr auch ruckweise unruhig pp sein. Doch – das interessiert dich ja| garnicht an sich – nur falls Deine Schwester das, wie ich annehme – empfunden hat u. vielleicht ausgesprochen – wollte ich Dir das erklären – Freitag früh haben Frede und ich in aller Gemütsruhe erzählenderweise zugebracht, – auch den Brief an Dich geschrieben u. s. w. dann zur Bahn. Der Abschied litt unter meiner Beschaffenheit. Ich mußte heim. Der Arzt hat auch glücklich einen beginnenden Leistenbruch konstatiert! Nächste Woche muß ich nach Cettel, um mir ein Bruchband anmessen zu lassen. Die (früh vorübergegangenen) Schmerzen haben uns gestern erst ein wenig gestört. Dann haben wir noch zusammen "Die Furcht vor dem Denken" gelesen| ein famoses Büchlein.– Nachher langte es neben dem Plaudern noch zu einigen Kapiteln von den ¿¿¿. Sie sind z. T. scheinbar wirklich fein. Ich lese sie mit Freude. Abends nach Tisch sind wir oben gewesen. Unter meinen Schwestern, Frede u. ich. Dämmerstunde – ein Lampion. Dazu Musik. Nachher Frede u. ich solo im Zimmer – geplaudert bis 11. Der arme liebe Kerl! Wie leid tut er mir immer wieder! Wie leid auch, daß er so zusehen müßte, wie meine Schwestern meinen Vater herzten! Das ist doch sicher ihm schwer gewesen.– Am Morgen 7 46 habe ich dann mal wieder das Nachsehen| gehabt – Wann sehen wir uns wieder. – Du hast diese Freude schon bald. Ich gönn' sie Dir ohne Neid; denn Du mußt in alle der furchtbaren Unruhe, die Dir dies Semester in zu großem Maße bringt kräftige Impulse zur Ruhe haben. Sonst kannst Du es nicht ertragen u. wirst innerlich unfroh. Frede sagte mir, Du hättest geklagt – (Du brauchst ihn nicht darum zu schelten!) – worüber? darüber? – fehlt dir irgend etwas? Du bist uns gegenüber zu verschlossen mein lieber Junge!– Ich glaube, Du fürchtest Dich in mancher Beziehung vor mir. Ich bin dir zu grob, scharf oder so? Aber das tu' doch ja nicht! Du weißt wie gerne ich mit helfe – u. es heißt doch| Eine Sorge des andern Last u. Meine Spezialkneipe habe ich Dir nie vorenthalten wenigsten indirekt immer mitgeteilt Du verstehst mich – ja – daß mir nachts an den "Sachen" liegt, daß ich nur gerne mitschleppe, was man so unterwegs aufgehockt bekommt. Also– nimm' Dich vor mir nicht zu sehr in Acht! Sonst weiß ich schließlich garnicht recht, wie ich Dich behandeln soll. Dies war eine Randglosse.

Du bist vielleicht garnicht zum Lesen solcher Epistel aufgelegt – das Predigt arbeiten u. lernen nimmt Dich ja ganzs in Anspruch - aber ich mußte Dir mal schreiben. Hoffentlich findest du Zeit u. Ruhe mal zu antworten. Eigentlich müßte| ich Dir auftragen. Dienstag von 8-10 setztest Du Dich hin u. beruhigst Deine Gedanken, Nerven etc. durch einen Brief an mich! Wenn ich nur wüßte, ob ein Brief an mich Dir eine Beruhigung wäre!! Was mir das Leben schwer macht – ist nicht der Gedanke an Leib u. äußere Dinge. Es hat mir ein Anonymus in meinem Liederbuch angestrichen: "Du bist's für den wird werden, wenn kurz gewandert du, dies Holz im Schoß der Erden ein Schrein zur langen Ruh" – Ich weiß nicht, wer der Hallenser ist– anonym wirkt er unheimlicher als offen aber das ist nicht für gewöhnlich mein Druck.. Obwohl ich bangen muß, daß ich noch bitten muß, dies Jahr noch gelassen zu werden, damit gewartet wird, ob ich noch Frucht bringe – und ich Freudigkeit, wirklich inneres Erleben mir schwer erringen muß resp. noch fündig daraus unterbewußt sträube es mir schenken zu lassen. Nunmehr ist meine Hauptfrage neben dieser centra| len, die wir alle in etwas haben werden – die Frage ob es recht ist, daß ich noch wissenschaftlich groß tue – arbeite, philosophiere u. s. w. oder ob ich nicht mich mit "dem Wort" und der Welt, wie sie ist u. ich sie kenne, begnüge – praktisch- politisch-sozial pp. meinen Horizont ausbaue. Es kommt nichts dabei heraus,: fast scheine ich wie der Mann, der ein Haus bauen will, ohne die Kosten zu überschlagen und zu der Gebrochenheit des Willens der ¿¿¿ gesellte das Studium die des Intellektes – Man lächelt zu beiden u. doch ist's verzweifelt schwierig, weil ein Arbeiten mit dem Gedanken das zu hoch – wieHeugelei Heuchelei scheinen muß. – Das sind so Sorgen. Heute habe ich für meinen Vater 300 mal geschrieben: "Nichts zu erinnern." – Das ist tröstlich langweilig!.. Entschuldige diesen Brief. Ich wollte Dir nur sagen daß ich eben so gerne helfe als Hülfe habe u. daß wir unsren Weg gemeinsam gehen wollen. Mein Wunsch für Dich und mich ist – daß wir ein – immer fröhlich Herz u. edlen Frieden geschenkt bekommen mögen und wie es in der Strophe1] weiter heißt!

¿¿¿ grüße ich Dich nun im Begriff ins Bett zu gehen herzlich u. bleibe D. tr. H.
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    Literatur:

    • Schlatter, Adolf, Die Furcht vor dem Denken: Eine Zugabe zu Hiltys "Glück", III, in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 4. Jg. 1. Heft, 1900