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Tübingen. 14.07.VII.

Mein liebes Paulchen!

Also ich komme. Es verreißt mich halt doch, das Nähere: wann ¿¿¿ ¿¿¿ ist noch nicht entschieden. Es war zwar ein harter Entschluß, aber die Sehnsucht Euch liebe Leutchen mal wieder zu sehen, ist zu groß. Die einzige Bedingung ist, daß Du nicht wieder über "stirb u. werde" paukst, sondern Dir gefälligst einen neuen Gedanken u. ein neues Wort auf Typs zu schreiben aussuchst. – Die Charge nach Straßburg nehme ich mit Wonne an, u. freue mich riesig mit Euch mal wieder meinen lieben Wichs zu tragen.

Eben kam nun Dein Brief1] u. ich möchte gleich darauf antworten. Was Du von "Leere" schreibst, kann ich wunderschön mitfühlen. Du erinnerst Dich mit welcher Müdigkeit ich zuweilen| auf Deine Bude kam. Es ist ja nicht in erster Linie körperliche Müdigkeit, sondern der Bankrot den jeder Kaufmann macht, wenn er mehr ausgiebt als er einnimmt. Es ist das bei dem nervös gesteigerten Verbindungsleben in Halle das Los der Leitenden, das man eben tragen muß, als Pflicht in erster Linie, im Bewußtsein viel dabei zu lernen u. seine Kräfte zu stählen in 2ter Linie. Du hast ja noch Hänschen, da kannst Du hie u. da einnehmen. Aber wie gesagt: ich verstehe Dich vollkommen. Ein Mittel haben wir ja, das nie versagt, das ist die Nase ins NT. zu stecken u. die paar stillen Minuten, in denen man den Tag überdenkt u. sich sammelt. Gerade aus dem Magen eines Hallenser-Chargiertenlebens heraus habe ich das besonders schätzen gelernt.

Nebenher gilt es aber auch ruhig die Beschränktheit seiner Kräfte einzusehen u. nicht "über die Kraft" arbeiten wollen. Man kann sich nicht oft genug sagen, daß man absolut nicht unent| behrlich ist.– Ich hoffe Du kommst nächstes Sem. auch so schön zur Ruhe, wie ich jetzt. Es ist nötig, daß wir nach den inhaltsreichen Studentensemestern uns mal besinnen u. den Ertrag einheimsen u. ordnen. Da hast Du ja nächstes Sem. in der schwesterlichen Pflege schöne Gelegenheit dazu. U. Albert wird wohl auch kommen. Aber er will ins Convict. Ich bin strikt dagegen. Er soll ganz in Deiner Nähe wohnen, sonst habt Ihr erst nichts von einander. Außerdem will Dinglinger, dieser Schauermensch auch in das Convict, dann ist er wieder so gebunden, wie in Halle mit Daniel. Man sieht, wie er jetzt aufatmet in Freiheit u. Ruhe. Er ist wirklich sehr nett, arbeitet ordentlich u ist nicht mehr so energielos. Also sorge dafür. Im Übrigen schreibe aber nichts, daß ich Dir das berichtet habe. Du hast doch mal gesagt, er könne bei Dir essen. Dann braucht er doch den saudummen Convicte nicht.

Deinen Pessimismus in Bez. auf den Bund| teile ich in gewisser Beziehung, nämlich wenn man Ideal u. Realität vergleicht; nicht aber wenn man Wingolf u. übrige Studentschaft vergleicht. Es sind bei uns überall noch gute starke Kräfte, wie auch oft schlummernd u. ein rechter Wille, wenn auch oft unbewußt. Darum wäre es ein Fehler, wenn wir uns vom Bunde abtrennten u. eine Wingolfsekte würden. Unsere Aufgabe liegt im Bund (cf. Parallele Volkskirche u. Sekte). Es kann ja sein, daß wir ganz ohne Bund weiterbestehen würden. (Die Gefahr der Versumpfung wäre größer, wenn wir keinen Gegner mehr haben). Aber der Bund hat uns nötig u. wir haben jetzt nach Aufhebung des Aktivitätszwangs mehr Aussicht als bisher, auf Einfluß in den Verbindungen, weil Marburg u Co nicht mehr aktiv wird. Aber ich sehe auch hier manches nette Füxlein, das mal in Halle eine tüchtige Kraft werden wird. Darum dürfen wir uns solchen Zuzug nicht abschneiden.

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Wir müssen eben in Halle immer die Kraft haben solche Leute an ihren Posten zu stellen u. unser Ideal hat besiegende Kraft für jeden, der dessen wert ist. Also solange sich noch wenige zum εις2] bekennen, werden wir siegen. – Dem Bund gegenüber gilt es: weniger Kritik mehr Position. Wir wollen v. ihrem Zustand gar nicht reden, sondern nur unser Ideal rücksichtslos in die Gegend stemmen. Das Mittel ist weniger, oder fast gar nicht der Bundesbrief, sondern unsere geschulten Inaktiven im Bund. Wir haben jetzt schon eine stille, aber sichere Macht, wir werden sie haben solange wir uns in Demut u Liebe in die Reihen der für den εις Kämpfenden stellen. Also werde kein Sektierer. Es ist wohl einfacher sich von der bösen Welt u. dem bösen Bund ins Kloster zum hl. Kähler zu verkriechen, aber evangelisch ist es nicht. Sie sollen uns haben, solange sie uns tragen wollen.

Ich freue mich, von Eurem geistig reg| samen Leben zu hören. Wir haben es hier still. Menschen, von denen man geistig nehmen könnte, sind nur sehr wenig da. Hermann fehlt mir oft. Dir wohl auch? Albert ist eigentlich der Einzige u. mit ihm verkehre ich viel. Sonst sind es eben Bücher. Raabe lese ich mit viel Freude, er ähnelt in Vielem Dickens. Sonst studiere ich Dogmengeschichte u. besonders AT. Um Kählers Ethik beneide ich Euch, die muß mächtig sein. In den letzten Tagen habe ich mich mit Heims "Weltbild" beschäftigt, könnte aber nicht sagen, daß ichs kapiert hätte.

Ich freue mich mächtig, Dich bald zu sehen. Um Deine Gesundheit sorge ich mich manchmal. Gelt Du bedenkst, daß Du Deine Kraft noch zu Manchem brauchen wirst. Wir fangen erst an, zu leben. Grüße deinen lb. Scherling. Daß Du an ihm viel Freude erlebst, sah ich voraus. Grüße Deine Frau Gemahlin.

Dein Alfred.

Lorenz u xx danke ich für die Briefe. Ich will bald mal antworten. Grüße Scheteligs

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    Literatur:

    • Kähler, Martin, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 1905, 3. Auflage. 
    • Heim, Karl, Das Weltbild der Zukunft. Eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie, 1904