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Berlin, Himmelfahrt 1905

Mein Herzensjunge!

Nun habe ich dich zum 1. Mal an meinem Geburtstag nicht bei mir. Da will ich denn etwas länger schreiben. Am Dienstag fand schon d. übliche Feier in der biblischen Besprechung statt. Die Jungfrauen schenkten mir e. Phonographen, wie ich ihn zum Diktieren schon lange gewünscht habe. Das Diktieren mittelst des Apparats ist zwar nicht so einfach aber doch ausführbar. Außerdem spielt der| Musikstücke und macht uns allen Freude. Am 3. Juni Nachmittag 5 Uhr findet der Einzug d. Kronprinzen hier statt; wir werden versuchen, etwas zu sehen, doch wird es wohl schwer halten

(ich soll weiter schreiben, damit du besser lesen kannst) Die Studentenschaft ist offiziel bei d. Einholung nicht beteiligt. Dafür bringt sie Sonntag Abend einen Fackelzug. Wir werden nichts davon sehen, weil gleichzeitig Geburtstagsfeier bei uns stattfindet. Dies ist Sonnabend nicht möglich wegen der Pfingstbetstunde. Ich lege dir ein Program der Betstunden bei, damit du täglich| aus der Ferne etwas teilnehmen kannst.–

Daß deine Wunde1] nicht schneller heilt, ist mir nicht lieb. Schreibe mir noch einmal ausdrücklich, ob die Heilung wenigstens normal verläuft.Ich Und teileDir mir zugleich mit, ob die Reise nach Eisengach2] endgültig aufzugeben ist. Diese Nachrichten sende mir bitte umgehend, da sie für meine eigenen Entschließungen maßgebend sind. Ich denke nicht zur Wartburg3] zu reisen, wenn Du nicht dort bist. Wir würden uns dann, so Gott will, kaum 3 Wochen später in Tübingen sehen.

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Für meine Reisepläne fällt auch ins Gewicht, daß heute eine Einladung von Herrn Harder zur Hochzeit für mich kam, der ich, wenn möglich, doch folgen muß (21 Juni).

Vorgestern schickte ich 100 M. an Dich, sie werden vorläufig reichen.–

Was du über d. Theologie Lütgerts schreibst, ist mir verständlich; es scheint dabei dasjenige zu fehlen, was Dorner in seiner von Dir gelesenen Einleitung zur Dogmatik hat. Allerdings muß ja der Theologe als solcher von gegebenen Größen ausgehen und hat ihren Inhalt zu entwickeln und als vernunftgemäß zu begründen. Die rein induktive Methode führt nie zur Evidenz, vergl. Kants Kritik d. Gottesbeweise4];5]

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    Personen:

    Orte:

    Literatur:

    • Dorner, Isaak August, System der christlichen Glaubenslehre. 2 Bde. Berlin 1879-81. 
    • Tillich, Paul, Impressionen und Reflexionen (GW XIII) 
    • Tillich, Paul, Ein Lebensbild in Dokumenten : Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte (EW V), hg. von Renate Albrecht, Margot Hahl, Stuttgart 1980. 
    • Vorstand des Eisenacher Bundes, Verhandlungen der Vierten Eisenacher Konferenz. 13. 14. 15. 16. Juni 1905, Großlichterfelde 1905. 
    • Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998.