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den 01.01.1921

Geliebte Hannah!

Du umschwebst mich jede Stunde, Du leuchtest in mir, Du läßt meine Seele zittern in Sehnsucht, Sorge und Hoffnung, Du bist mein, auf welchem Ort des Alls Du auch weilst! Und doch sehne ich mich nach dem ganzen Nahesein, und freue mich trotz alles Schweren auf die Tage in Deiner Nähe. Heut habe ich den Brief an Albert geschickt; früher kann ich nicht kommen; aus dem Grund, den ich im Brief angegeben habe. Es ist schade, wenn M.arie L.uise dann nicht mehr da ist; dafür hat aber Albert Schule, wenigstens den Freitag Vormittag; und ein paar Stunden müssen wir allein haben, sonst vergehe ich. Ich denke dann Sonnabend nach Leipzig und Sonntag nach Berlin zu fahren, falls nicht die Lage Änderungen verlangt. – Ich danke Dir, daß Du das „Du“ erzählt hast. Du mußt mich sofort so anreden und mir sagen, Du hättest es Albert gesagt, oder es mir noch offiziell schreiben, damit ich Dich so an| rede. Wir müssen so schnell wie möglich eine Atmosphäre der Klarheit (wenn auch nicht in alle Konsequenzen) schaffen. An Lotte schreibe ich gleichzeitig mit diesem Brief ab; sie hat mir rührender Weise eine „Magdalena“ von Quentin Massys geschickt, den ich so liebe, und dessen Typ Dir in vielen Augenblicken ähnlich ist. – Weihnachten ist still, wehmutsvoll-selig verlaufen; Du warst viel unter uns, und der Gedanke, Dich einmal in dem schwermütig-reinen Frieden dieses Hauses zu wissen, ist mir Glück und Beruhigung. Die vierte, die hier ist, ist die Freundin von Alfred, Gertrud Immow, Klavierkünstlerin, ein entzückendes Wesen, der er durch Unterstützungen, die er ihr verschafft hat, durchgeholfen hat, und die uns täglich in überirdische Regionen hebt. Ich hab einen herrlichen Baum erkämpft und geschmückt, der wie ein Wald das Zimmer | überschattet und in seinem Aufbau ein Bild absoluter Vollkommenheit darstellt; unter ihm sitze ich auch jetzt, während nebenan Brahms erklingt. Wie ist es eigentlich mit Dir? Kannst Du Klavier spielen? Und wenn nicht, kannst Du es etwa noch lernen? Es wäre der größte äußere Wunsch, den Du mir erfüllen könntest. Außerdem müßtest Du Italienisch lernen; ich will es jetzt auch mit Hülfe des Malers Egli, als Zukost zum Mittag. Ostern übers Jahr müssen wir dann nach Italien, mit Rucksack und Schlafsack. … Die Form zu suchen, die wir doch nie finden werden; denn unsere Form ist das Zerbrechen jeder Form und die ewige Paradoxie. – Ich habe in diesen Tagen einen Aufsatz entworfen über Masse und Religion. Er wird mir sehr schwer, da mir die Ekstasen (meine Steckenpferde!!), | fehlen; aber vielleicht wird er tiefer. – Gestern Abend bei Sturzwellen von Mozart, Chopin, Beethoven kam mir der Gedanke, daß das unbedingt Wirkliche, der Abgrund, in dem das Denken versinkt oder geboren wird, doch auch für das Gefühl zugleich Abgrund und Grundfinden sein müßte; und schon in diesem Gedanken kam eine seltsame Ruhe über mich, die offenbar die Form unserer „Ruhe in Gott“ ist, ganz etwas Anderes und doch das Gleiche, das unsere Alten hatten.

In dieser Ruhe, die tiefer ist „als alle Vernunft“ – wie der Gehalt tiefer ist als alle Form und das Sein tiefer als alles Bewußtsein – will ich in das Neue Jahr gehen, das außer und über meiner Arbeit nur den einen Inhalt haben wird, Dich, Du Geliebte, mir Heilige und Segensschwere, der Stern, durch den das Ewige Licht auf meinen Weg scheint!

Paul.

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