Der editierte Text

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1b!

So wie jetzt bist Du noch nie in mir, um mich gewesen; ich war sehr unruhig nach einem Brief von Dir, und bin heut sehr froh, daß er da ist.2 Wie Du durch die Beziehung auf die Zukunft alles anders erlebst, so ich durch die Nähe Deines Seins. Die Gedanken werden zu Gesprächen mit Dir und die Erlebnisse zu Erzählungen an Dich. Ich bin so froh über die Ruhe in der Natur hier; sie läßt all die gewaltigen Erlebnisse des vergangenen Jahres sich vertiefen; sie schafft auch neue Ideen; sie sichtet und ordnet; wenn nicht die Tiefe der Ermüdung und der Zwang, einiges zu arbeiten, wäre, ich wäre ganz glücklich. Ich habe einen Gedanken, der mir kam, während ich Pilze suchte, auf Grund der Lektüre von c deutscher Kunst im Handbuch der Kunstwissenschaft3: Mich begeisterten dort wieder einmal die Miniaturen mit ihren unglaublichen Farben. Und die Tatsache, daß sie meistens verwendet werden für Stundenbücher etc... brachte mich auf die Idee, von Dir ein solches zu erbitten. Du sollst mir nicht nur meine Bibel sein; Du sollst mir auch eine schenken; natürlich| nicht auf einmal, sondern nach und nach. Ich schreibe Dir Abschnitte aus der Bibel, e, f etc., die eine Bedeutung für mich bekommen haben, und Du schreibst sie auf eine oder zwei Seiten mit einer starken, expressionistischen Miniatur. Wir können jetzt wieder Derartiges machen: Die Stilformen des Expressionismus erlauben es. Dazwischen muß auch ein Gedicht oder mehrere von Dir kommen; z. B. wenn Du Deinen prachtvollen Ringtraum poetisiert hast. Die Buchstaben müssen natürlich auch expressionistisch gemalt sein. Wenn Du willst und kannst, so fange an mit dem 90. Psalm, meiner liebsten Stelle in der Bibel, die mich in allen großen Ereignissen und in jedem Sylvester begleitet hat; oder wenn Dir das mehr liegt, mit dem Mitternachtslied aus dem g oder dem Engelslied aus dem Prolog des h. Und wenn Du ein Blatt fertig hast, dann schicke es mir! – Falls Du Sinn und Inspiration für das Ganze hast. Dein zweiter Brief4 hat mich wieder tief bewegt. Es ist etwas Gewaltiges, was wir wollen. Werden wir stark genug sein? Es ist die Probe auf das, was wir einst bedeuten werden. Ich empfinde jeden Tag als eine Vorbereitung darauf!

Hast Du den ersten Brief5 und die Tabletten erhalten? Also: bis zum 1{¿} 1. Sept. i, postlagernd; dann j. Schreibe sehr oft; ich schreie danach!


Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "Aug. 20" vermerkt.
2Liegt nicht vor.
3Wahrscheinlich gemeint ist d
4Liegt nicht vor.
5Liegt nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Hannah
cBurger, Fritz
dBurger, Die deutsche Malerei vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissan..., 1917
eNietzsche, Friedrich
fRilke, Rainer Maria
gNietzsche, Also sprach Zarathustra, 1891
hGoethe, Faust. Eine Tragödie. 1. Teil, 1867
iRügenwaldermünde
jBerlin

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(16)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von Februar 1922
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 26. Januar 1922

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von August 1920, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01313.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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