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den 01.08.1920

Geliebte!

So wie jetzt bist Du noch nie in mir, um mich gewesen; ich war sehr unruhig nach einem Brief von Dir, und bin heut sehr froh, daß er da ist. Wie Du durch die Beziehung auf die Zukunft alles anders erlebst, so ich durch die Nähe Deines Seins. Die Gedanken werden zu Gesprächen mit Dir und die Erlebnisse zu Erzählungen an Dich. Ich bin so froh über die Ruhe in der Natur hier; sie läßt all die gewaltigen Erlebnisse des vergangenen Jahres sich vertiefen; sie schafft auch neue Ideen; sie sichtet und ordnet; wenn nicht die Tiefe der Ermüdung und der Zwang, einiges zu arbeiten, wäre, ich wäre ganz glücklich. Ich habe einen Gedanken, der mir kam, während ich Pilze suchte, auf Grund der Lektüre von Burgners deutscher Kunst im Handbuch der Kunstwissenschaft: Mich begeisterten dort wieder einmal die Miniaturen mit ihren unglaublichen Farben. Und die Tatsache, daß sie meistens verwendet werden für Stundenbücher etc … brachte mich auf die Idee, von Dir ein solches zu erbitten. Du sollst mir nicht nur meine Bibel sein; Du sollst mir auch eine schenken; natürlich nicht auf einmal, sondern nach und nach. Ich schreibe Dir Abschnitte aus der Bibel, Nietzsche, Rilke etc., die eine Bedeutung für mich bekommen haben, und Du schreibst sie auf eine oder zwei Seiten mit einer starken, expressionistischen Miniatur. Wir können jetzt wieder Derartiges machen: Die Stilformen des Expressionismus erlauben es. Dazwischen muß auch ein Gedicht oder mehrere von Dir kommen, z. B. wenn Du Deinen prachtvollen Ringtraum poetisiert hast. Die Buchstaben müssen natürlich auch expressionistisch gemalt sein. Wenn Du willst und kannst, so fange an mit dem 90. Psalm, meiner liebsten Stelle in der Bibel, die mich in allen großen Ereignissen und in jedem Sylvester begleitet hat; oder wenn Dir das mehr liegt, mit dem Mitternachtslied aus dem Zarathustra oder dem Engelslied aus dem Prolog des Faust. Und wenn Du ein Blatt fertig hast, dann schicke es mir! – Falls Du Sinn und Inspiration für das Ganze hast. Dein zweiter Brief hat mich wieder tief bewegt. Es ist etwas Gewaltiges, was wir wollen. Werden wir stark genug sein? Es ist die Probe auf das, was wir einst bedeuten werden. Ich empfinde jeden Tag als eine Vorbereitung darauf!

Hast Du den ersten Brief und die Tabletten erhalten? Also: bis zum 1. Sept.ember Rügenwaldermünde, postlagernd; dann Berlin. Schreibe sehr oft; ich schreie danach!

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