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den 26.01.1922

Geliebte Hannah!

Es ist ½ 2 Uhr Nachts. Aber in mir zittern alle Fibern. Ich muß mich ausschütten in die, die ich liebe; ich muß die seelische Entspannung haben nach tiefster Spannung. Heut war der Vortrag in der Kantgesellschaft. Ich habe gestern Abend und heute Vormittag den 4ten Teil völlig neu gemacht und ihn auf die Höhe des dritten, ja darüber hinaus gehoben. Dann am Nachmittag habe ich unter Fiber Kolleg gearbeitet, und dann kam ich in die Aula der Universität; unten lagen meine Bücher aus. „Masse und Geist“ war gleich ausverkauft. Oben ein Riesensaal gefüllt, viele die standen; zahllose Bekannte, auch mein Vater, auch Professor Soden aus Breslau. – – ich hatte Sorge; vor allem wegen der Schwere und Ausgefeiltheit der Sätze. So wurde es wesentlich ein Vorlesen; aber es wirkte doch; die systematische Geschlossenheit über| wältigte. Und dann kam die Debatte, die diesen Abend zu dem wichtigsten wissenschaftlichen Ereignisdes meines Lebens machte. Es kam die große Scheidung von den Neukantianern, der Formalphilosophie der Vergangenheit. Hier stand schließlich Leben gegen Leben. Der Gegensatz war scharf; aber schließlich gelang es mir, fast inspirationsmäßig ein Schlußwort zu finden, in dem ich vollkommen siegte; ich war gereizt durch den Gegensatz und ich schuf im Moment mehr als ich in der ganzen Rede sagen konnte; es war mir, als ob der Geist der neuen Lebendigkeit, all der Jungen, die vor mir saßen, durch mich sprach. Ich zog den scharfen Trennungsstrich zwischen dermReligion Geist des Gesetzes und der Gnade und die Jugend zu denen auch mancher Alte gehörte, wollte die Gnade. Ich werde Feinde dadurch finden, aber es war doch groß. Ich danke Dir, daß ich das schreiben darf, und Gott, daß ich Dir das schreiben darf. Denn es ist Gnade, nichts als Gnade! –

Nun gute Nacht! Geliebte!
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