Der editierte Text

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1Geliebte b!

Es ist ½ 2 Uhr Nachts. Aber in mir zittern alle Fibern. Ich muß mich ausschütten in die, die ich liebe; ich muß die seelische Entspannung haben nach tiefster Spannung. Heut war der Vortrag in der Kantgesellschaft.2 Ich habe gestern Abend und heute Vormittag den 4ten Teil völlig neu gemacht und ihn auf die Höhe des dritten, ja darüber hinaus gehoben. Dann am Nachmittag habe ich unter Fiber [sic!] Kolleg gearbeitet, und dann kam ich in die Aula der Universität; unten lagen meine Bücher aus. d war gleich ausverkauft. Oben ein Riesensaal gefüllt, viele die standen; zahllose Bekannte, auch mein e, auch Professor f aus g. – – ich hatte Sorge; vor allem wegen der Schwere und Ausgefeiltheit der Sätze. So wurde es wesentlich ein Vorlesen; aber es wirkte doch; die systematische Geschlossenheit über| wältigte. Und dann kam die Debatte, die diesen Abend zu dem wichtigsten wissenschaftlichen Ereignis des meines Lebens machte. Es kam die große Scheidung von den Neukantianern, der Formalphilosophie der Vergangenheit. Hier stand schließlich Leben gegen Leben. Der Gegensatz war scharf; aber schließlich gelang es mir, fast inspirationsmäßig ein Schlußwort zu finden, in dem ich vollkommen siegte; ich war gereizt durch den Gegensatz und ich schuf im Moment mehr als ich in der ganzen Rede sagen konnte; es war mir, als ob der Geist der neuen Lebendigkeit, all der Jungen, die vor mir saßen, durch mich sprach. Ich zog den scharfen Trennungsstrich zwischen derm Religion Geist des Gesetzes und der Gnade und die Jugend zu denen auch mancher Alte gehörte, wollte die Gnade. Ich werde Feinde dadurch finden, aber es war doch groß. Ich danke Dir, daß ich Dir schreiben darf, und Gott, daß ich Dir das schreiben darf. Denn es ist Gnade, nichts als Gnade! –

Nun gute Nacht! h!

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "26. Januar 22" vermerkt.
2Tillich hielt am 25.01.1922 einen Vortrag vor der Kant-Gesellschaft über c, vgl. Kant-Studien, Band 27 (1–2), 446.

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Hannah
cTillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, 1922
dTillich, Masse und Geist. Studien zur Philosophie der Masse, 1922
eTillich, Johannes Oskar
fSoden, Hans Freiherr von
gBreslau
hTillich, Hannah

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(18)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von August 1920
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von August 1921

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 26. Januar 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01314.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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