Der editierte Text

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1Liebe geliebte b!

Du scheinst meinen Brief,2 den Dir c mitnehmen sollte, noch nicht zu haben. So habe ich nach langem Schweigen nur ein paar Worte von Dir, in denen Du eine nunmehr längst verstorbene Pointe so lange tritts, bis sie noch ein paar Quetschtöne von sich gibt. Nu hör aber auf! Sonst ist es weder schön, noch klug, noch pikant! – Ich schrieb Dir einen müden, sehr müden Brief;3 seitdem hat es sich wesentlich gebessert. Die Erholung wirkt nach. Aber die Wurzeln der Elendigkeit bleiben, und jedesmal, wenn der Körper n nicht ganz auf der Höhe ist, drängt sich alles ans Tageslicht, was an schweren Lasten im Innern ruht. Die neuerliche Teuerung bringt auch äußere Sorgen; ich weiß trotz aller Arbeit wirklich nicht mehr, wovon ich eigentlich leben soll. Im Unbewußten bahnt sich eine Sehnsucht an nach Bürger-Glück, eine feste Stellung, eine Frau, etwas Ehre, vielleicht ein Kind. Und die Idee einer "reichen Frau" frißt halb ironisch, halb ernsthaft an dem großen Schwung der Seele. Du aber bist fern, die Du helfen könntest! Und würdest Du| helfen können? Würdest Du nicht mit Ansprüchen an mich herantreten, mit berechtigten Ansprüchen, die ich nicht erfüllen könnte? Kannst Du mütterlich sein, kannst Du des andern Lasten tragen, kannst Du es ertragen, wenn der Geist des andern weit von Dir weg fliegt, nicht zu Blumen und Schmetterlingen, sondern zu den Schatten der Gruften und Ratten? Ach d! Meine Hand zittert fast, meine Finger kann ich kaum halten, wenn ich denke, daß Du weg bist, und nicht kommen kannst, und die Wogen meiner Seele hinbrausen – und sich brechen, ohne daß Du in ihnen bist, ohne daß sie zu Deinen Füßen Ruhe finden. Fast möchte ich sagen: Was hältst Du meine Seele hin, was zwingst Du sie zum mürbenden Warten! e; ich warte bis zur Entscheidung über Eure Zukunft; dann sage ich: Komm oder geh´ für immer! – Wenn die Gerichte funktionieren, werde ich im November von f, dann von dem g frei. Dann muß der Augenblick kommen, wo auch Du frei bist, für oder gegen mich! – Ich fahre am 18.ten nach h zurück und schicke dann Bild und Gedichte4, die ich eingeschlossen und darum mitzunehmen vergessen hatte.

In tausend Schmerzen!
Dein i.

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "Aug. 21" vermerkt.
2Liegt nicht vor.
3Liegt nicht vor.
4Liegen nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Hannah
cWerner, Marie Luise
dTillich, Hannah
eTillich, Hannah
fTillich, Margarete
gTillich, Klaus Eberhard
hBerlin
iTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(17)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 26. Januar 1922
nächster Brief in der Korrespondenz
Brieffragment von Paul Tillich an Hannah Tillich von September 1920

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von August 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01315.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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