Der editierte Text

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Geliebte a!

Wieder ist ein Donnerstag ohne Antwort auf meine Briefe, ohne daß ich weiß, ob sie angekommen sind, ob überhaupt noch einer in Deine Hände gelangt. Mindestens drei müßtest Du jetzt bekommen haben. Gibt es denn keinen anderen Weg? Daß auch b, wenn sie persönlich schreiben will, diesen Weg gehen muß, erschüttert mich, und ist wie ein helles Schlaglicht auf Dein Dasein! – Ich danke Dir für Deinen Brief1 mit den Notizen über c. Habe ich Dir mal erzählt, daß d Jahre meines Lebens (17tes bis 20tes Lebensjahr) mir die größte Wirklichkeit war, daß ich fast jedes seiner Worte auswendig wußte? Aber ich würde jetzt fühlen wie Du! Wir haben die Tat gelernt. e hat mir einen Willen geschaffen, und wenn auch dieser Wille zunächst wie eine Naturkraft vielfach in die Irre ging, so ist er doch da und kann nicht mehr schwinden, zum Guten oder zum Bösen.

Ich habe jetzt einen sehr wichtigen Briefwechsel2 mit f über meine Stellung zu den Frauen gehabt; Anlaß war Geklatsch unter den Studenten, das ihm zu Ohren kam; ich habe ihm geschrieben, daß ich nicht die Ehe für die einzig mögliche Form des Erotischen hielte, nicht wenn auch für die ideale, aus der man aber kein Gesetz machen dürfe. Er schrieb mir von seinem Verhalten zu Frauen, das in dieser Beziehung immer zurückhaltend und abweisend gewesen wäre. Um so größer wäre sein geistiger Einfluß gewesen. Mir wirft er vor, daß ich die Dinge doch immer für meinen Geist und insofern egoistisch getan hätte; man dürfe aber nicht etwas suchen, sondern man müsse warten, bis es einem geschenkt würde. Sein eigener Verzicht in einer bestimmten Richtung hätte ihm innerlich den größten Gewinn gebracht. Das Geistreich-Unsystematische meiner bisherigen Veröffentlichungen erkläre sich so. – Praktisch scheint er sich wie immer schon, der Meinung zuzuneigen als em solle ich in die philosophische Fakultät übergehen; doch ist er darin nicht diktatorisch. – Ich hatte mit großer Spannung auf diesen Brief gewartet, und war sehr froh, als er heut ankam. Ich werde mich immer weiter mit ihm auseinandersetzen müssen; aber mir ist eins dabei klar: Für ihn werden alle Probleme von der ethischen Form her gelöst,| während ich aus der Lebensfülle kommend nach einer Form suche. Infolgedessen ist diese Lebensfülle oft ungeformt, rein naturalistisch, und dieser Naturalismus kommt nun wieder mit dem Zarathustrawillen zusammen, der bei g ja auch naturalistisch ist. All der Lebens-undRausch und all die Schmerzen, die ich Frauen und mir bereitet habe, stammt aus diesem Naturalismus; aber alle Gemeinschaft und alle Worte der Güte stammen aus dem Willen, ihn zu überwinden.

So kann und darf auch mein "Ja" zu Dir rein naturalistisch sein! Ich lasse es mir auch von Dir nicht ausreden, daß es sich nicht um den Kampf um das "Weibchen" handelt, sondern um die sittliche Existenz Deiner Persönlichkeit. Darum kann ich Dich nicht drängen; darum kann ich keine Ströme intensiven Willens zu Dir senden; darum muß ich Dir sagen: Bleibe, wenn Du darfst! Darum muß die Entscheidung von Dir ausgehen, und ich kann nichts haben als die unbedingte Bereitschaft für Dich. Und daß ich die habe, wie ein Heiligtum unantastbar über dem Wagen Deiner Seele, das weißt Du. Aber wenn ich Dich ziehen wollte, so würden wir in der Ebene des unmittelbaren Lebens bleiben, statt den gemeinsamen über uns liegenden Punkt zu haben, in dem wir eins sind. Wir dürfen nicht von Wille zu Wille handeln, sondern wir müssen den gleichen Willen aus Gott holen, d. h. aus dem Sitz der ewigen Geltung, die freilich nicht irgendwo zu lesen ist, sondern die wir uns schöpferisch holen müssen.

Ich "liebe" eigentlich niemand. Ich bin gut Freund mit h und empfinde sie immer am meisten als Schwester, ich trage i und bin ihr Kamerad, dem sie alles sagen kann; ich schließe dann und wann, selten genug, die j als Engelchen (das sehr böse sein kann) in meine Arme. Sonst arbeite ich viel, und freue mich, daß keine Sonnenglut mich heraus lockt. Doch ist das Schwerste, der Juni, jetzt vorbei.

Ich sehne mich nach einem Wort von Dir. Doch achte ich Dein Schweigen. Wenn Du mit Deiner Seele und Deinem Gott allein sein willst, so sage es mir! Dann Schweige!


Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Liegt nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bWerner, Marie Luise
cShakespeare, Shakespeare's Hamlet, english und deutsch: Neu übersetzt und erläutert von ..., 1869
dShakespeare, Shakespeare's Hamlet, english und deutsch: Neu übersetzt und erläutert von ..., 1869
fHirsch, Emanuel
gNietzsche, Friedrich
hWerner, Marie Luise
iIlse-Margot
jJessen, Malla

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(17)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom Frühling 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 9. März 1920

Entitäten

Personen

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von Juli 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01300.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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