Brieffragment von Paul Tillich an Hannah Tillich von September 1920

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Der editierte Text

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[...]gerade in entgegengesetzter Richtung liegt Deine Aufgabe, freilich nur dann, wenn Du die Einheit des Paradox fühlst, wie ich sie in der Tat fühle! Ich bin jederzeit zur Unbedingtheit bereit – wenn Du da bist; ich wäre auch bereit, wartend für Dich zu verzichten, wenn die Hygiene meiner Seele mir jetzt Asketik gestattete. Aber ich würde mich darunter zerreiben; und ich weiß, ich nehme Dir nichts, denn ich will in allem nur Dich! – – –

a, Geliebte, in diesen Tagen war etwas da, das war mir größer als jeder lebende Mensch: das Meer: 4 Tage wütete der Sturm aus Nord-Ost; an zwei Tagen mit höchster Gewalt, daß die Dünen viertels zerfressen wurden. Über der Ostmole aber stiegen die Wellen in unerhörtester Gewalt in Fontänen auf, deren Spritzen den Hafen überstäubte, und an der Strandmauer war ein ununterbrochenes Donnern und ein kerzengerades Aufsteigen der Wasser bis zur Höhe des 4 stöckigen Turmes und darüber hinaus, daß der ganze Ortsteil in Gischt und Regen gehüllt war. Nachts bebte unser Haus unter den Stößen und am Tage war der Strand eine einzige Flut. 3–4 Mal am Tag ging ich auf die Westmole, den Weg der tiefsten Anbetung meines großen Gottes. Kämpfend| Schritt für Schritt komm ich bis zum Allerheiligsten, wo die Riesenwellen in ungebrochener Kraft heranwogten, sich aufbäumten, weit höher als mein Kopf, wenn ich auf der ebenen Mauer stand, und dann, wie ein Pfeil vorbeirasten mit stürzendem Getobe; was Wellen sind, habe ich nie gewußt bis zum Freitag dem 27ten August Abends um 7 und Sonntags dem 29ten Nachmittags um 3. Ich ging immer mit innerer Angst dahin. Denn es ist nichts Kleines, der Majestät des Gottes unmittelbar ins Auge zu sehen; b brach darüber zusammen; ich war ein Wahnsinniger diese Tage, ohne Ruhe gepeitscht in höchsten Ekstasen; war dieser Sturm für mich doch Erfüllung dreißigjähriger Kinder-Träume und Sehnsüchte; noch ist jede Faser in mir durchwühlt, erregt, Meer-getränkt. Am Abend des letzten Tages aber, als der Sturm am wildesten war, saßen wir neben der Strandmauer, und kurz vor Sonnenuntergang kam die Sonne durch, das einzige Mal, und schien, ein roter Ball. Durch die wild wehenden Schleier der ununterbrochen donnernd auffliegenden Fontänen, und übergoß sie mit unsäglicher Zartheit rosa-violetter Töne; es war als ob alle Olympier herabsteigen müßten, das zu sehen, was wir sehen; mir war immer wieder ein Zwang, auf die Knie zu sinken und weinend anzubeten. – c, wärst Du hier gewesen! Und doch! Auch Du wärst nicht gewesen vor der verzehrenden Nähe des Gottes, auch Du nicht, kein Mensch, auch kein Gedanke, kein Tun, kein Wollen, nicht einmal ein Erleben, sondern nur ein Dasein, zu Gott-Sein!

Übermorgen fahre ich ab. Schreibe dann nach d! Es wird nachgeschickt!

In tiefster Bewegung – des Gottes Knecht!

Fußnoten, Anmerkungen

Register

aTillich, Hannah
bAppelius, Hildegard
cTillich, Hannah
dBerlin

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(16)
Typ

Brieffragment, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von März 1922
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von August 1921

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brieffragment von Paul Tillich an Hannah Tillich von September 1920, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01296.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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