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10. Mai 33.

Lieber, sehr verehrter Herr Prof Tillich,

diese letzte Bitte, die ich noch an Sie habe, hätte ich auch telefonisch erledigen können, aber die meisten meiner Freunde sagen am Telefon nichts mehr, was irgendwie wichtig ist. Sie sprachen davon, dass Sie bald einen Vortrag in der Schweiz zu halten haben. Mein Mann ist in den nächsten 4 Wochen noch in der Schweiz beschäftigt + hat schon so lange den Wunsch, Sie einmal sprechen zu können. Hier wird das ja nie mehr möglich sein, aber vielleicht könnte er es sich doch einrichten, da er ja ein Central-Abonnement f. d. Bahn hat.

Außerdem wüsste ich noch gerne, wie es mit der Kant-Gesellschaft ist. Ist sie auch gleichgeschaltet oder besteht die Möglichkeit, dass man dort später einmal Mitglied wird + wieder ein bisschen Anregung hat? Es wird mir meist so furchtbar leer + einsam, mein Bruder + meine besten Freunde sind fort oder gehen bald, mein Mann hat nun gerade jetzt eine viel intensivere Reisetätig| bekommen, sodass ich also richtig Zeit habe, den Dingen in all ihrer Schwere + Bitterkeit nachzugrübeln. Irgendwann werden wir dies gastliche Land wohl verlassen müssen des Kindes wegen, aber obzwar ich manchmal glaube, diese Atmosphäre nicht mehr ertragen zu können, muss ich hoffen, dass wir noch 3 bis 4 Jahre hier bleiben, jeder frühere Termin wäre die Folge einer wirtschaftlichen Katastrophe.

Nun aber genug von mir. Ihnen + Ihren Lieben wünsche ich wärmstens alles, alles Gute. In freier, schöner Landschaft – die Natur ist ja noch frei – werden Sie bald wieder zur inneren Ruhe + zur Arbeit kommen!

Wenn Sie inbezug auf das Telefon nicht so ängstlich sind, rufen Sie mich doch bitte unter 66230 an, wenn Sie aber nichts sagen wollen, kann ich ja noch bei Ihnen vorbei kommen. Leben Sie wohl + grüssen Sie Ihre Gattin!

Ihre Werdly
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