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Sonntag Nachmittag1]

Liebe Hannah!

Ich danke dir, daß Du angerufen hast. Der Zustand vorher war furchtbar; denke Dir alle Deine Eifersucht und alle Deine Angst um Erdmuthe vereinigt, und Du weiß wie mir zu Mut war. Eins verstehe ich noch nicht: Warum hast Du dich angemeldet und nicht geschrieben: "aber wegen Zahnarzt nur auf einen Tag." Dann wäre alles klar gewesen. Aber Dein Brief und das Telegramm zusammen,2] das war zum Wahnsinnigwerden. Nun Schluß davon, wir wollen es vergessen. - -

Du mußt nun kommen. Günther sagte heut in seiner taktvollen Weise: Es wäre irgendwie falsch, wenn sie solange mit mir und gar nicht mit Dir zusammenge| wesen wäre. Ich finde das sehr richtig. Und Cläre schreibt Dir noch extra. Es kommt nicht auf den Tag an. Überanstrenge Dich ja nicht! Am besten ist, Du telephonierst am Abend, ehe Du kommst. Dann bist Du nicht vorher gebunden und wir können alles genau besprechen. Das Geld laß meine Sorge sein.

Sonst wäre viel zu berichten: Seit 3 Tagen liegt Lilly mit 39-40 Gr. Fieber; erst seit heute Besserung. Wahrscheinlich Grippe. Aber da sie im andern Haus liegt, ist Ansteckung nicht zu befürchten. – Ich habe nach vielen Qualen den neuen Titel für die Schrift gefunden: "Die beiden Wurzeln des politischen Denkens"3] Untertitel: "Zur Kritik und Begründung des Sozialismus." Dazu habe ich das Einleitungskapitel nun geschrieben. Die anderen müssen noch stark umgestaltet werden. Es ist eine furchtbare Arbeit. Abends lese ich vor, dabei geht mir noch manches auf. – Eben mit Schairers eine halbe Stunde im Potsdamer Schloß | Kaffee; Sie wollten mich gleich nach Berlin mitnehmen, waren sehr nett. – Hier ist Nazi-Jugendtag. 100 000 Leute mindestens, z.T. jünger als Erdmuthe. Heut früh Segelparade vor Hitler. Wir im Motorboot mitten durch; dann eine Sturmfahrt auf dem Schwielow-See. | Vorgestern Abend mit Eckart, M.L, Emmy im chinesischen Restaurant Abendbrot gegessen. M.L. in offener Verzweiflung über Eckart. Emmy am Verhungern, Ilsemargot demnächst von ihrem Mann verlassen. Eckart spielt mit Gasschlauch. So sieht ganz Berlin aus. Für Emmy vielleicht Stellung bei Löwenfeld. Sonst niemand in Berlin gesehen.

Komm!
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    Literatur:

    • Tillich, Paul, Die sozialistische Entscheidung, Potsdam 1933