Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 4. Februar 1931 [PS]

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Der editierte Text

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Liebste Hannah (Details anzeigen)!

Der Vortrag1 (900 Menschen) sehr gut gelungen. Dann höchst gemütliches Zusammensein im Hotel mit kleinem Kreis. Dürrs (Details anzeigen) wechselten immer hin- und her, da im gleichen Hotel ein Theater-Empfang war. Es war alles sehr nett. Dann guten Schlaf in einem herrlichen ganz modernen Hotel mit fabelhaftem Bett. Heut früh| nach langem Schlaf noch etwas klapprig aber doch ganz vergnügt. Jetzt Mannheimer (Details anzeigen) Gallerie. Dann weiter Saarbrücken (Details anzeigen). Morgen Abend zurück!

Ich liebe Dich!

Dein

Paul (Details anzeigen).


Fußnoten, Anmerkungen

1Im Rahmen einer von der Volkshochschule veranstalteten Vortragsreihe hatte Tillich am Abend des 3. Februar im Mannheimer Musensaal einen Vortrag zum Thema "Der religiöse Mensch" gehalten. Die Neue Mannheimer Zeitung schreibt (Details anzeigen) in ihrer Abendausgabe vom 4. Februar 1931: „Im Rahmen der Vortragsreihe 'Menschenkenntnis' sprach gestern abend im Musensaal der Nachfolger des so seltsam rasch dahin gegangenen Max Scheler (Details anzeigen) auf dem philosophischen Lehrstuhl der Frankfurter Universität, Dr. Paul Tillich.
Der religiöse Mensch, d. i. der Mensch als Mensch und als nichts anderes, erwächst für Tillich aus drei Schichten des Daseins. In der untersten, rein kreatürlichen Schicht der Naturwesen herrscht die 'vollkommene Gebundenheit'; Stein, Pflanze und Tier sind in der ihnen mitgegebenen und von der sie tragenden Vollkommenheit gebunden. 'Der Mensch' beginnt mit der zweiten Schicht, wo die erste Schicht in die Sprache aufgenommen und die Natur 'mythisch' erlebt wird; der Mensch lebt unfrei im Bann gefürchteter Naturgötter und Dämonen. In der dritten Schicht erst wird der religiöse Mensch, der Mensch als solcher, möglich. Er löst sich aus der naturmythischen und vitalen Gebundenheit und beginnt zu fragen. Ziel seines Fragens ist — nach Tillich — die Welt zu beherrschen. Die Geschichte der abendländischen Menschheit ist die Verwirklichung dieses Fragens. Sein Träger ist soziologisch die 'bürgerliche Gesellschaft,' die jenes Fragen in ihren verschiedenen Geistesschichten verschieden radikal auch inbezug auf das überlieferte religiöse Lebensgut durchführte. Entscheidend ist für die gegenwärtige Lage, daß keinerlei ursprüngliche Bindung nach irgend einer Richtung mehr da ist, die durch solches 'In-Frage-stellen' nicht zerbröckelt wäre.
'Der religiöse Mensch' ist in solcher Lage allein derjenige, der nicht in irgend eine überwundene Bindung vitaler oder mythischer Art zu flüchten sucht, sondern 'ausharrt und besteht.' Er weiß: der Mensch trägt nicht, wie die Naturwesen unter ihm, sein eigenes Sein vollbestimmt in sich selbst, er kann sein Menschsein — wie die Gegenwart zeigt — in vielfältiger Weise verlieren; er ist das eigentlich 'bedrohte' Wesen, das stets in Gefahr ist, auf die Frage keine Antwort zu erhalten und die ihm gestellte Forderung — eben Mensch zu sein — nicht zu erfüllen. Der Mensch kann — und auch dies zeichnet ihn aus — verzweifeln, d. h. zwiespältig sein in sich selbst. Das Gefühl der Bedrohtheit tränkt den Wesensgrund des Menschen mit 'Angst,' die von dem Gefühl der 'Schuld' begleitet wird, begründet in der Losreißung vom alles tragenden Seinsgrund (Sündenfall, Erbsünde). Wie so mancher unserer Zeitgenossen, der ihn nicht nennt, wandelt hierbei Dr. Tillich in der Gefolgschaft des großen Dänen Kierkegaard (Details anzeigen).
Eindringlich warnte Prof. Tillich vor jeglicher 'Flucht,' zu der der religiöse Mensch in der gekennzeichneten Lage neigt, die aber nur eine Unwahrheit ist. Er bleibt sich getreu, wenn er sich zu seiner Bedrohtheit, Angst und Schuld bekennt und sich aufrecht hält in steter 'Erwartung.' Was diesem Warten vollinhaltliche Erfüllung sein kann, umschrieb Prof. Tillich für den aufmerksamen Zuhörer mit dem beliebten 'Ignorabimus.'
Seine Kennzeichnung des religiösen Menschen ist für unsere Zeit ganz zweifellos in weitem Ausmaß zutreffend; das hindert nicht, seine Ausführungen als typisch 'vorchristlich' zu erkennen. Prof. Tillich erwies an diesem Abend fast demonstrativ die innere Unmöglichkeit einer solchen Darstellung, in der das, was den Ausgangspunkt und die historische Sinnbegründung des Christentums bildet, derart ignoriert wird, wie es durch Prof. Tillich geschah, — darin keineswegs der Nachfolger Max Schelers (Details anzeigen)...“

Register

aTillich, Hannah
bKbl., "Der religiöse Mensch". Paul Tillich spricht in der Volkshochschule, 1931
cScheler, Max
dKierkegaard, Sören
eScheler, Max
fDürr, Erich
gMannheim
hSaarbrücken
iTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/3(1)
Typ

Postkarte, eigenhändig

Postweg
Mannheim - Frankfurt a. M.
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Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 9. Dezember 1930 [PS]
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Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Postkarte von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 4. Februar 1931 [PS], in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01090.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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