Der editierte Text

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Feldbergstr. 7 a den 6. 10. 291
Lieber Herr b!

Gestern habe ich Ihnen einen Sonderdruck meines c zugeschickt. Er ist vor etwa zwei Jahren geschrieben, für mich aber wichtig als Übergang zu den in meinem demnächst erscheinenden d2 enthaltenen Sachen. Gleich nach meiner Rückkehr habe ich Ihre Schrift f3 gelesen. Besonders wichtig war mir dabei Ihre Gegenüberstellung der politischen und geistigen Entwicklung. Ich finde das sehr gut gesehen. Was mich selbst betrifft, so könnte ich vielleicht sagen, dass ich Sozialist bin, um gegen die Verwestlichung im Sozialismus und durch den Sozialismus Einspruch zu erheben. Der religiöse Sozialismus ist zweifellos ein Gegenstoss gegen die politische Bindung an den Westen. Und wenn Sie richtig gesehen haben (was ich glaube), dass der Geist stark nach Osten tendiert, so halte ich es keineswegs für aussichtslos, dass einmal wieder von ihm aus "die Wirklichkeit revolutioniert werde".

Was die Stellung der Universitäten4 betrifft, so bin ich allerdings weniger optimistisch. Ich glaube, dass ihr soziologischer Einbau z. Z. völlig unzulänglich ist. Was wir in i erlebten und immer wieder hier darüber hören, grenzt in der gesamten Sozialstruktur an Schildbürgertum. Eine solche Atmosfäre muss auch auf den Geist zurückwirken. Nicht dass die Wissenschaft es mit Begriffen zu tun hat und mit begrifflich ungeformter Wirklichkeit, ist ihre Lebensferne, sondern dass diese Begriffe aus der Schau einer Wirklichkeit geboren sind, die nicht mehr unsere Wirklichkeit ist. Es fehlt auch jedes Bewusstsein um die soziologische und psychologische Bedingtheit der angeblich reinen Sachbezogenheiten, und infolgedessen liegt ein umso stärkeres Bedingtsein vor.

Dies so einige vorläufige Gedanken, über die wir vielleicht sprechen können, wenn ich nach j komme (etwa zwischen 17. u. 25. Oktober.) Wir müssen dann auch noch einmal ausführlich über die Ethik5 reden.

Mit herzlichem Gruß
Ihr
l

Fußnoten, Anmerkungen

1Erklärende Anmerkungen zu vorliegendem Brief wurden (ggf. geringfügig abgewandelt) aus seiner Erstveröffentlichung übernommen.
2Seeberg hat Tillichs "Religiöse Verwirklichgung" sodann e.
3Vgl. auch den g.
4Vgl. h.
5Gemeint ist der Auftrag Tillichs, ein Lehrbuch der Ethik für eine von Erich Seeberg herausgegebene Reihe zu schreiben, vgl. auch den k.

Register

aFrankfurt am Main
bSeeberg, Erich
cTillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 1929
dTillich, Religiöse Verwirklichung, 1930
eSeeberg, Rezension zu: Tillich, Paul, Religiöse Verwirklichung, 1930
fSeeberg, Wirklichkeit und Geist im Deutschland von heute, 1919
gBrief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 29. Juli 1929
hSeeberg, Die Universitäten, der Staat und die Wirtschaft, None
iMarburg
jBerlin
kBrief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 29. Juli 1929
lTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Koblenz, Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Reinhold und Erich Seeberg, N 1248
Typ

Brief, maschinenschriftlich

Postweg
Frankfurt a. M. - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 29. Juli 1929
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Erich Seeberg an Paul Tillich vom 21. Mai 1931

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Erich Seeberg vom 6. Oktober 1929, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01029.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L01029.pdf