Rundbrief von Paul Tillich an Wingolfsbrüder vom 1. September 1919

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Der editierte Text

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Liebe Freunde!

Genau 2 Jahre liegen zwischen meinem letzten Schreiben und diesen Tagen. Sie haben mir nach 5 Monaten Winterquartier in verhältnismäßig ruhiger a-Stellung die 3 großen Offensiven b, c und die mißlungene in der d gebracht. Bei der ersten brach ich mit den Nerven zusammen und kam infolge dessen im August 18 nach e als Garnisonspfarrer. So habe ich den ganzen Zusammenbruch nicht mehr an der Front mitgemacht, dafür aber die Revolution in f. Am 1. Januar wurde ich entlassen und habilitierte mich aus finanziellen und persönlichen Gründen nach g um, wo ich nebenbei „Stadtvikar“ bin und im Sommersemester meine erste Vorlesung über „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“1 gehalten habe. Ich hatte 25 angemeldete und oft gegen 30 wirkliche Zuhörer, was ein ganz befriedigender Anfang ist. Ich wohne h.

Dieses der äußere Rahmen. Er umschließt eine Entwicklung, die Euch vielleicht wundern wird, aber mit innerer Notwendigkeit sich vollzogen hat. Auf mich hat, nachdem der erste patriotische Rausch sich in den ersten Monaten im Felde verzogen hatte, der Krieg eine doppelte Wirkung gehabt: Erst habe ich ihn als Verhängnis erlebt, nämlich das Verhängnis der europäischen Kultur und ein „Ende“ schlechthin, (in meinem eschatologischen Brief hier im Rundbrief habe ich dem Ausdruck gegeben,) und dann habe ich ihn sehen lernen als notwendige Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung und bestimmten, damit verknüpften Ideen. Und nun wurde aus dem furchtbaren Druck, unter dem ich im Felde Tag für Tag gestanden habe, eine starke, zornige Willensbewegung gegen die so aufgebaute Gesellschaft.
Das begann im Felde im Sommer 1918. Erst sah ich die erschütternde Größe des sozialen Gegensatzes zwischen den beiden Klassen, der Offiziersklasse und der Mannschaftsklasse, den Gegensatz zwischen Kriegsgewinnlern in der Heimat, Arbeitern und Unternehmern, und zerstörten Existenzen an der Front. -

Dann in i sah ich die ungeheure Größe der Not und die Last, die dem Volk auferlegt war von solchen, die nicht mitzutragen brauchten. Endlich sah ich die Bedingtheit der nationalen Idee und den furchtbaren Fluch, die ihre Verabsolutierung über die Menschheit gebracht hat. So war ich der Gesinnung nach Sozialist schon vor der Revolution, sie zwang dann zur politischen Stellungnahme, und ich habe theoretisch und praktisch für eine neue sozialistisch aufgebaute Gesellschaftsordnung Stellung genommen. Ich habe, ohne einer Partei anzugehören, für die SPD gestimmt, werde jetzt USPD wählen, da leider die Kommunisten ganz im bolschewistischen Fahrwasser sind. Ich habe im Winter viel über diese Dinge reden hören und zum Teil selbst geredet, bin mit einer Reihe von Führern der Unabhängigen in persönliche Berührung gekommen, und habe infolge der Tatsache, daß ich bei der USPD in j einen Vortrag über „Christentum und Sozialismus“ gehalten habe (nicht wegen des Inhalts des Vortrages!!) einen kleinen Kampf mit dem Konsistorium, der mit einer pflaumenweichen Antwort seitens des Konsistoriums endigte. Die Grundgedanken, die ich damals dem Konsistorium antwortete (zusammen mit meinem Freunde k, der in gleicher Lage war), habe ich mit ihm in Form einer kleinen aus 30 Leitsätzen bestehenden Broschüre drucken lassen: l, sie erscheint in diesem Monat im Grachtverlag, m C 2, An der Schleuse 2, (Selbstverlag von n). Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr Euch mit den dort entwickelten Gedanken durchdringen und auseinandersetzen würdet und evtl. hier Eure Meinung entwickeltet. Ich kann es mir darum sparen, hier all die Gründe zu entfalten und Gegengründe zu widerlegen, die in einer solchen Debatte üblicherweise anzukommen pflegen, da alles in diesen Thesen in konzentrierter Form zum Ausdruck gebracht ist. Nur dieses möchte ich zur Beruhigung vorwegnehmen: Meine Bejaung des Sozialismus und meine Stellungnahme in der Wahl für gewisse Parteien bedeutet nicht, daß ich diese Parteien in ihrem empirischen Bestande bejaen könnte. Da habe ich meine schärfste Kritik, auch gegen die Unabhängigen mit ihrer üblen Methode der Agitation, aber ich sehe hier die meiste sozialistische Energie und die meiste Umgestaltungsmöglichkeit für die Zukunft. Was ich will, ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und des Sozialismus geborene Gesellschaftsordnung, in der Kapitalismus und Nationalismus grundsätzlich überwunden sind -

In meinem Kolleg hatte ich mir ein weites Programm gesteckt, bin aber faktisch nur zu einer Besprechung der religiösen und philosophischen Grundlagen der politischen Parteien gediehen. In dieser Form will ich die Sache im Zwischensemester wiederholen. Es handelte sich für mich zunächst nur um die rein politischen Richtungen: demokratisch, konservativ, anarchistisch, während ich den Gegensatz liberal - sozialistisch noch nicht berührt hatte, denn dieser ist seinem Wesen nach wirtschaftlich und kann sich mit jeder der 3 politischen Richtungen verbinden. Ich habe versucht, die Demokratie als Konsequenz des säkularisierten Naturrechts, des „Urstandes“, gegründet auf reiner Rationalität, aufzufassen, das Konservative als irrationales Naturrecht des „Sündenstandes“, endlich habe ich den theoretischen Anarchismus zu einem System des demokratischen Föderalismus weiter zu entwickeln versucht, in dem das Rationale, Demokratische, Zentralistische die allgemeine, leichte Form, das Irrationale, die Sozietäten (z.B. die „Räte“) den wirklichen Gehalt des politischen Lebens bilden. Das historische Material stammt meistens aus o p, das große theologische Buch seit q r, das für jeden von Euch, der an der Weiterentwicklung der Theologie teilnehmen will, unumgänglich notwendig ist. Ihr habt dann aber nicht nur mehr davon, als wenn ihr hunderte von Zeitschriften und dergleichen lest, sondern Ihr habt auch reichste Anregung für die praktische Behandlung der politischen Probleme vom Standpunkt der Kirche. Und scheut bitte den Preis nicht, und kauft's, solange es zu haben ist!

Im April hielt ich in der s tgesellschaft einen Vortrag über „Die Idee einer Theologie der Kultur“, der in den „Vorträgen der Kantgesellschaft“ im Winter gedruckt wird. Es handelt sich um das Problem, wie sich die spezifisch religiösen Kulturfunktionen, Glaubenslehre, Kultus, Heiligung, Gemeinschaft, Kirche, zu den entsprechenden Kulturfunktionen, aus denen sie einen Ausschnitt darstellen, verhalten, also zu Wissenschaft, Kunst, Personal-Sittlichkeit, Gesellschaft, Staat. Die Antwort ist, daß bei einem richtigen Religionsbegriff jene spezifischen religiösen Sphären keine eigene reale Gültigkeit mehr haben, sondern nur noch eine psychologisch-pädagogische, daß dafür die Kulturfunktionen selbst (zu denen natürlich auch die Anschauung der Natur und Technik gehört) an und für sich ein religiöses Moment in sich tragen, und zwar in dem Maße stärker, als ein überfließender Gehalt eine Form zerbricht und sich eine paradoxe Form schafft. So zum Beispiel die gotische und expressionistische Kunst, die große Metaphysik, die Person-Ekstatik u, der mystische Liebeskommunismus, der föderalistisch-anarchistische Staatsgedanke - während die „akademische Kunst“, die „Sachwissenschaft“, die vische Moral, die Demokratie a priori „profan“ sind. Dieses Profane darf nie heteronom von der Religion her beseitigt oder verkehrt werden; nur wo ein starker Inhalt selbst die Form zersprengt, offenbart sich die Religion. Die Analyse dieser Dinge wäre die Aufgabe einer „Theologie der Kultur“.

Zum Rundbrief selbst das Einverständnis damit, daß w den Antrag gestellt hat, x ganz auszuschließen, zugleich aber die Bitte, den Antrag abzulehnen, da er wohl damit, daß er gestellt ist, seinen Zweck erreicht hat.

Augenblicklich bin ich mit y in z.

Herzlichen Gruß vom Meer!
Euer aa

Fußnoten, Anmerkungen

1Konnte nicht ermittelt werden.

Register

aChampagne
bAmiens
cAisne-Marne
dChampagne
eBerlin-Spandau
fBerlin
gBerlin
hBerlin-Friedenau
iBerlin
jBerlin-Zehlendorf
kWegener, Carl Richard
mBerlin
nWegener, Carl Richard
oTroeltsch, Ernst
qHarnack, Adolf von
sBerlin
tKant, Immanuel
uNietzsche, Friedrich
vKant, Immanuel
wBalke, Hans
xKilger, Albert
yFritz, Alfred
zMisdroy
aaTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, None, -
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Berlin - unbekannt
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Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Rundbrief von Paul Tillich an Wingolfsbrüder vom 1. September 1919, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00646.html, Zugriff am ????.

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