Der editierte Text

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D. 11. Jan. 1916
Liebe a!

Dein Brief hat mich lebhaft bewegt. Selbstverständlich erfährt niemand, auch b |:nicht:|, von allen Dingen, die das Innenleben eines anderen betreffen und vertraulich sind, nichts; auch Dein Brief1 ist vernichtet. – Und nun die Sache selbst; nach meiner Meinung ist die Alternative, die Du stellst, verkehrt. Entweder Verlobung oder auseinander, das ist nicht richtig; sondern Du mußt an Dich selbst die Alternative stellen: Entweder in Freundschaft weiter, oder wenn das nicht geht, Schluß! Nicht ihm, sondern dir selbst mußt Du die Alternative stellen.

Mancherlei Gründe liegen dazu vor; zunächst der, daß es im innersten Wesen des Verkehrs der beiden Geschlechter begründet ist, daß die aktive Frau den Mann zurückstößt. Das Stellen einer Alternative ist eine Aktivität, die einen stark männlich empfindenden Mann unbewußt, abgesehen von allen Gründen, dazu bringen würde, die Alternative negativ zu entscheiden. Das ist nichts Konvention, sondern Natur, genau wie es Natur ist, daß der aggressive Mann von der Frau gewünscht wird.

Aber er hätte auch recht nein zu sagen. Euer beiderseitiges Leben ist viel zu reich, als daß in dem jetzigen Stadium schon eine definitive Entscheidung an dem wesentlichsten und lebendigsten Punkte fallen dürfte. Ihr beide habt eine fast ?? 7-jährige Zeit vor Euch, ehe Ihr heiraten könnt, und zwar {Eure} 7 innerlich bewegtesten Jahre und in denen Ihr beide zahllose Menschen sehen und vielleicht lieben lernen werdet. Soll diese ganze Entwicklung von vornherein durch ein halbes Gelübde,| wie es die Verlobung ist, schief und gewaltsam werden{;} die Jahre der höchsten Entwicklungsfreiheit kommen für ihn. Könntest Du es verantworten, diese Entwicklung zu belasten?

Und nun angenommen, Ihr wäret verlobt, meinst Du der Zustand der Verlobung ist weniger zwiespältig als der jetzige? Du könntest innigere Briefe schreiben, es könnten tiefere und leidenschaftlichere Töne mitklingen, aber das erträgt man nicht lange; frage selbst die kurz Verlobten, wie sie unter dem Zwiespalt gelitten haben und nun 7 Jahre! Das ist eine psychologische Unmöglichkeit, zumal bei deinem Temperament. Du deutest darum psychologisch richtig die Idee der freien Liebe an. Die hat aber nur ein sittliches Recht, wenn sie eine ebenso starke Bindung ist, wie die wirkliche Ehe; und eine solche Bindung ist für Euch nicht möglich. Außerdem ist dieser Gedanke praktisch unmöglich, da er den Beruf aufgeben und Du das Elternhaus verlassen müßtest! – –

Du als Frau mußt die Selbstbeherrschung haben, Deine Liebe in die Form einer tiefen geistigen Freundschaft zu ergießen; das ist ihre Kraftprobe. Zersprengst Du diese Form, dann ist eines Tages die Liebe verschüttet. Ich freue mich, daß c2 das gesehen hat. Und wenn Du von der Tiefe seiner Empfindung sprichst, so hast Du ja darin die Garantie, daß sie eines Tages zur vollen Gemeinschaft führen kann, nach Jahren williger innerer gegenseitiger Freiheit.

Ich rate Dir also: Zeige die Kraft Deiner Liebe darin, daß Du Gefühl und Temperament im Zaum hältst, und vor allem jetzt nicht den, den Du liebst und der es schwer genug hat, vor eine qualvolle Alternative stellst. Sei dankbar, daß Du einen hast, der in dieser Zeit in Liebe an Dich denkt und gönne ihm vor allem denselben Trost!

In alter Freundschaft
Dein g.

Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.

Register

aRhine, Maria
bTillich, Margarete
cChristiansen, Hans
dChristiansen, Hans
eBrief von Paul Tillich an Maria Klein vom 27. November 1916
fBrief von Paul Tillich an Maria Klein vom 26. März 1917
gTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974, bMS 649/178(8)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 2. Januar 1916
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 16. Mai 1916

Entitäten

Personen

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 11. Januar 1916, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00464.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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