Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich und Familie vom 21. August 1915

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Der editierte Text

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a, d. 21. Aug. 1915.

Kriegsgeburtstag 1915.
Früher vergaß ich meistens meinen Geburtstag und war sehr erstaunt, wenn mich jemand daran erinnerte, daß ich demnächst wieder ein Jahr älter würde. Dies Mal habe ich schon den ganzen August daran gedacht und wurde neugierig wie er verlaufen würde. Nun ist er so schön und eigenartig verlaufen, daß er sich immer in der Erinnerung weit herausheben wird aus allen anderen; und dies soll das Erinnerungsblatt sein für kommende Zeiten.

Ein ordentliches Fest muß auch seine Vorfeier haben, am 19ten hatten wir Jugendgesellschaft, d. h. während sonst meistens b seinen Verpflichtungen gegenüber älteren Herren, Obersten u. drgl. nachkommt, luden wir diesmal Leutnants, jüngere Hauptleute u. s. w. ein. Zwei Flieger waren dabei, der eine ein c des früheren d, dem ich bei einem Zusammentreffen auf der Division seine Ähnlichkeit mit seinem e sofort auf den Kopf zugesagt hatte, ein sehr elegantes feines sicheres Kerlchen von 22 Jahren, schon verlobt, der beste Tänzer, den ich bis jetzt kennen gelernt habe; mein andrer Gast war unser Divisionsadjudant Hauptmann f, von dem ich ja schon oft erzählt habe; er wusste als einziger von meinem Geburtstag aus den Akten. –|

Es verlief dann alles sehr vergnügt wie immer bei diesen Gesellschaften. Es gab selbstgeschossene Rebhühner, aber nur Wein, keinen Sekt, grundsätzlich nicht bei uns, was ich sehr schätze, da der Wein viel besser schmeckt.... Nachher gingen wir ins Billardzimmer, wo der von mir geraubte goldene Kronleuchter durch seidene Papierschirme violett-gedämpftes Licht über das ganze Zimmer, die Nische, Spiegel und Ölbilder ergießt; Kerzenglanz und große Sträuße machten das Ganze noch festlicher... und doch war es nur für 20 Min. zum Zweck des Kaffeetrinkens; dann setzte die Musik ein, Klavier, Geige, Cello, und alles zog herüber in die "Bar".

Die Bar? Schon lange war mir als "Chef der Innendekoration" unser Klubzimmer ein Dorn im Auge gewesen, eine häßliche, etwas zerrissene grüne Tapete, schmutzige Decke, zwei riesige Wandschränke mit klaffenden Ritzen, zwei Türen, zwei Riesenfenster, ein häßliches kleines Büffet in dem kleinen Raum, der Fußboden dreckig, das Sopha alt und scheußlich, 3 große Bilder, das einzig Gute. Zugleich hatten g, unser h und ich gesprächsweise den scherzhaften Vorschlag gemacht, eine Bar einzurichten. Da fuhr i auf Urlaub und schon faßten wir den genialen Entschluß, das Klubzimmer in eine Bar zu verwandeln. Und nun ging es mit militärischer Schnelligkeit. Dienstag fuhren j| und ich im Auto nach k und requierierten Tapeten. Mittwoch war Besichtigung und Anforderung von 2 Tapezierern von Regiment 36, Donnerstag wurde die Decke gestrichen und nach modernem Stil weit heruntergezogen. Freitag wurde tapeziert, nachdem vorher die eine Tapetentür verschlossen und die Wandschränke in zwei entzückende Wandnischen verwandelt waren. Freitag Abend waren Farbenproben für die Holzteile, schwarz, grau und violett herrschen vor. Sonnabend wurde gestrichen, gefegt, eingeräumt. Der Fußboden ist völlig belegt mit sehr passenden Teppichen und Läufern, in der einen Nische ist eine Bank für 2 Mann mit Samtbekleidung und Kissen, in der anderen Nische ist der Stuhl für den Ausschänker, rechts und links auf violetten Wandbrettchen die Gläser, Schnäpse, Weine, vor ihm der Bartisch, der untere Teil des alten Büffets mit Flaschen, Strohhalmen, Schokoladen, Parfüms, Zigaretten, u. s. w. vor dem Bartisch ein hoher Barstuhl. Die Beleuchtung geschieht durch drei elektrische Lampen mit großen gelben Stofftulpen, so daß ein gelblich gedämpftes Licht entsteht, was zu der rötlich matten Tapete und dem rot und gelben Teppich glänzend paßt; in der einen Fensternische ist auch noch ein Platz mit Tischchen und zwei Sesseln, so daß im Ganzen man in 4 Gruppen zu je 2-5 Menschen sitzen kann, während vorher im Ganzen für 6 kaum Platz war. Das Schönste aber ist| der Bilderschmuck. Schon seit Monaten sammle ich in verschiedenen Mappen alle Bilder, die ich kriegen kann; dann ließ ich mir von der Jugend eine Menge Nummern schicken, die zur rechten Zeit ankamen; die letzte [sic!] Abende war Bilderkommission, worin wir die geeigneten aussuchten, natürlich für eine Bar geeignet, also unter Ausschluß aller Kriegsbilder und unter starker Bevorzugung des hier so sehr fehlenden schöneren Teiles des Menschengeschlechtes in allen Formen und Gestalten; etwa 40 Bilder wurden für geeignet erklärt und ich hatte sie zu gruppieren, was dann auch nach 2 Abenden Arbeit und mit Hilfe der anderen so gut gelang, daß wir noch jetzt keine Veränderung wünschten. Die großen Bilder wurden ins Billardzimmer gehängt und die Gruppen der kleinen regen zu immer neuer Betrachtung an. – Ein Bild ist noch hinzugekommen, das seine Geschichte hat; wir hatten mehrfach Debatten über die Abstammungslehre, wobei sich außer l alle zur Deszendenztheorie bekannten; er konnte das gar nicht begreifen und ulkte uns dauernd mit unseren Vorfahren an; von seinem Urlaub schrieb er mir aus dem Zoo eine entzückende Affenpostkarte; diese wurde von unserm Zeichner vergrößert und gefärbt und der Affe prangt jetzt an der Rückwand der Bar-Tische, dem Genießer aller dort ausgestellten Lieblichkeiten seine Vergangenheit und – seine Zukunft vor Augen führend. Unterschrift von m: "Mensch bleibt Mensch."| [Darstellung: In der oberen linken Ecke der Briefseite befindet sich ein Grundriss der Bar mit eingezeichneten Möbeln und Beschriftung, wie sie n auf den beiden vorherigen Seiten des Briefes beschreibt.] In beistehende Bar also zog die Gesellschaft staunend und bewundernd und Entschlüsche [sic!] fassend, sich auch eine Bar einzurichten. Nebenan spielte die Musik und lockte o und p heraus zu einem Boston, wie er in Berlin nicht besser getanzt werden könnte. Gegen 11 gingen die Gäste und wir saßen noch herum und plauderten bis ½ 1; um 12 warf ich unauffällig einen Blick auf meine Uhr. Jetzt war es Geburtstag geworden und niemand wusste es....

Am nächsten Morgen um 8 weckte mich q und gratulierte mir; auf Befragen, woher er es wüßte sagte der treue Kerl, er hätte es in meinem Soldbuch gelesen und in sein Notizbuch geschrieben; ich war wirklich gerührt über die Liebe und Anhänglichkeit, die darin lag. Dann feierte ich für mich erst durch einen langen schönen Spaziergang; als ich zurückkam, las ich zur Überwindung aller Müdigkeiten ein paar kräftige Kapitel aus r vom Ja zum Leben; nach Tisch las ich die Briefe, soweit sie nicht schon am Tage vorher gekommen waren, und ließ mich dann in das Reich der Gefühle und Wehmut und Erinnerung tragen durch s t. – – – |

Nach dem Kaffee machte ich einen langen Ritt durch die spätsommerlich dunstigen Felder; auf dem u platzten ununterbrochen die Granaten und hinten im Westen beim 9ten Korps ein dumpfer Schlag nach dem andern. Die Sonne war halb verhüllt im Dunst und ich dachte an den anderen 20 August, wo ich 8 Jahre alt wurde und wir mit v von w nach x gingen und ich vielleicht zum ersten Mal Sonnenuntergang als Erlebnis empfand. – –

Als ich nach Hause kam, sagte mir der y, Herr z ließe sagen, es sollte niemand durchs Eßzimmer gehen, aa hätte eine wichtige militärische Besprechung. Da wußte ich, daß ab geplaudert hatte und man meinen Geburtstag wußte. Vorher aber hatte ich noch eine sehr nette Überraschung; unser Koch, dem ac natürlich davon erzählt hatte, hatte mir eine großartige Torte gebacken, und als ich nach Tisch rauf kam, stand sie da, auch ein Beweis, wieviel Gemüt in den viel verlästerten Sachsen steckt. – – –

Zum Abendbrot wurde ich dann hereingerufen, und fand meinen Stuhl umkränzt, die Bilder und das ganze Zimmer geschmückt; aber schon stieß mich ad weiter und im Eingang stand ae mit einer gelben Rose und hielt mir eine kleine Geburtstagsrede, dankte im Namen aller| Zuhörer der Brigade und wünschte mir Erfüllung meiner akademischen Ziele; dann gratulierten alle und führten mich zu dem Geburtstagstisch. Das Tischchen vor der Sitz-Nische (rechts unten) war durch ein größes [sic!] ersetzt; darauf standen Sträuße und ein schön gemaltes Plakat mit den Worten: "Unserem Dekorations-Strategen zum neuen Jahr viel Glück und Segen". Die "Dekoration" bezieht sich darauf, daß ich "Chef der Innendekoration" bin, der "Stratege" darauf, daß ich die Karten der verschiedenen Kriegsschauplätze unter mir habe und öfter af über die allgemeine Lage in ag etc. Vortrag halten muß; auf {diesen} Punkt bezieht sich auch das Schönste der Geschenke, ein amtlicher Brief mit 7 Brigadesiegeln, "eilt sehr" "Durch Spezialboten an den "ah", etc. und drinnen das vor zwei Stunden angekommene Telegramm mit der Nachricht von den 85 000 Russen in ai;1 die Überraschung war vollständig gelungen. Weiter waren auf dem Tisch brennende KronLeuchter, 29 Kerzen, die so ermöglicht waren, daß 4 davon in Form einer römische [sic!] X zusammen 20 ergaben... dann Holzvögel, die die gefangenen Russen hier in entzückender Ausführung machen. Dann ein Bild aus dem Kunstwart, eine Spanierin, die al vorstellen soll, eine Französin in am, der ich im Auf| trag von an mit ao zusammen eine Rose überbracht habe und mit der er uns nunmehr anödet, weiter Zuckerwerk, 2 Flaschen Sekt, ein weißer und ein schwarzer Springer als Symbol unseres Schachspieles... Ihr könnt Euch denken, wie beweglich mir das war, insbesondre auch diese Liebenswürdigkeit von ap, der den ganzen Nachmittag herumgetobt war, um alles zu machen. Zum Abendbrot gab es dann kaltes Rebhuhn, und nachher gingen wir in die Bar und tranken eine Flasche Sekt; die {Lichter} glänzten, die Blumen dufteten, und als die Lichter langsam erloschen, sagte aq, es ist wie Weihnachten, das war mein Geburtstag in Frankreich am 20 August 1915.

In der Nacht aber wurde ich zweimal wach, so donnerten die Kanonen und erinnerten mich daran, daß es Kriegs-Geburtstag war, und in diesem Jahre mehr noch als sonst der 90te Psalm Wahrheit ist, den ich an jedem Geburtstag und an jedem Sylvester mir in die Seele klingen lasse und der doch noch gewaltiger ist, als alles Donnern der Kanonen.

Euer
ar!

[asatauavawaxay.]
Extra-Brief und Extra-Dank kriegt jeder in den nächsten Tagen!


Fußnoten, Anmerkungen

1Gemeint ist die Belagerung der Festung von aj, im heutigen ak, an der Ostfront vom 4. bis 19. August 1915. In der Festung befanden sich zur Zeit der Belagerung etwa 90000 russische Soldaten, die draufhin größtenteils in Kriegsgefangenschaft gerieten.

Register

aJuvigny (Aisne)
bBonin, Henning von
cSchwartzkopff, ???
dSchwartzkopff, Philipp
eSchwartzkopff, Philipp
fPulkowski, ???
gPfeiffer, Erich
hPulkowski, ???
iBonin, Henning von
jPfeiffer, Erich
kChauny
lBonin, Henning von
mBonin, Henning von
nTillich, Paul
oPfeiffer, Erich
pSchwartzkopff, ???
qSchröder
rNietzsche, Also sprach Zarathustra, 1891
sMünchhausen, Börries Albrecht Conon August Heinrich Freiherr von
tMünchhausen, Die Balladen und ritterlichen Lieder, 1908
uNouvron-Vingré
vTillich, Oskar
wStubbenkammer
xLohme
ySchröder
zPulkowski, ???
aaBonin, Henning von
abPulkowski, ???
acSchröder
adPfeiffer, Erich
aeBonin, Henning von
afBonin, Henning von
agRussland
ahFalkenhayn, Erich von
aiNowogeorgiewsk
ajNowogeorgiewsk
akPolen
alAdrienne, ???
amCoucy-le-Château-Auffrique
anBonin, Henning von
aoPfeiffer, Erich
apBonin, Henning von
aqBonin, Henning von
arTillich, Paul
asTillich, Johannes Oskar
atTillich, Margarete
auFritz, Johanna
avTillich, Johannes Oskar
awTillich, Marie
axWinkler, Toni
ayTillich, Johannes Oskar

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Briefe, bMS 649/193(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Juvigny - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 9. August 1915
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich vom 1. September 1915

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johannes Tillich und Familie vom 21. August 1915, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00447.html, Zugriff am ????.

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