Brief von Paul Tillich an Johanna Tillich vom 20. November 1914

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Der editierte Text

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a, d. 20.Nov. 1914.
Mein liebes, liebes b!

Als Wichtigstes muß ich Dir das Menü mitteilen, das ich gestern Abend nach Ankunft von c Karte mit d Unterschrift gegessen und getrunken habe nicht zu meinem, sondern zu seinem Wohl, obgleich es auch mir recht wohl getan hat. [N.B. Es war eine e da]

1. Königinnen-Suppe. –
2. Champignons mit Kalbszunge. –
3. Ente mit Rosenkohl und Apfelmus. –
4. Süße Speise. –
5.Butter und [Käse]
6. Kaffee. –

Dazu a) Weißwein. b) Sekt.

Mit letzterem hat meine Umgebung auf das Wohl von Deutschlands Zukunft getrunken. Mehr konnte das Entrée des neu gewonnenen Weltbürgers nicht recht gefeiert werden, wenigstens nicht in Frankreich. Mein Telegramm,1 das natürlich bezüglich der Taufe ernst gemeint ist, habt Ihr hoffentlich bekommen, ebenso die reizende Karte2 von f.

Soweit das Formelle; nunmehr treten wir in die materielle Betrachtung der Sache ein, die natürhlich allerhand| Seiten hat und wie alles Materielle, dialektisch ist.

Dies letzte trifft nun freilich nicht zu für g, der von jetzt an einen definitiven Ausdruck für seinen schlechthinnigen Pessimismus gefunden hat, nämlich den: "Natürlich schon wieder voll..."; was "voll" ist und womit, verbietet mir der Wohlanstand zu sagen.

Bei h dagegen ist die Sache schon recht dialektisch. Denn einerseits muß sie mit i behaupten, daß die Sphäre des Daseins in Bezug auf j, k, l, m (oder was für drei Silben sonst sein Wesentliches bezeichnen sollen) erst mit dem Tage der ersten Ich-Sagung beginnt, insofern sich dort erst beginnende Moralfähigkeit zeigt; andererseits wird sie aus höchst eigener Erfahrung zugeben müssen, daß gewisse Anzeichen für die Daseinssphäre besagten n etc sich schon erheblich geltend gemacht haben, resp in Form von kausalen Affektionen der Nasen- und Ohr-Nerven täglich neu geltend machen. Somit stellt sich in obgenanntem o od. drgl ein Nnicht-seiendes Sein dar oder das Dialektische selbst.

Was nun p betrifft, so ist er eben Onkel und das sagt manches. Es sagt einerseits eine Negation aus, nämlich, daß er nicht Vater ist, andererseits| eine Position, daß er die allgemeine Generationsstufe des Vaters erreicht hat, zu den "Vätern" im potentiellen Sinne gehört. Das letztere ist nun aber zugleich konkret gemeint, nämlich daß er denkt ‒ so zu weilen wenn er die andere Seite der dialektischen Schaukel vergißt – er wäre selbst der Vater, und dann, da er sich statt in q, bei r – wie sich das für Onkels geziemt – befindet, nicht mit der Hand, aber im Geist besagten s etc. auf seine Arme nimmt, ihn in die tabulas rasas seiner hoffentlich dunkelblauen Kinderaugen kuckt [sic!] , sich auf seinen Schimmel schwingt, der ob der ungeheuren Mehrbelastung einen Galopp über die schneeglänzenden, sonnigen Felder macht, und t und u der Unendlichkeit zuträgt--- Nur fürchte ich, daß nach diesem Ritt die negative Seite meiner Onklichkeit sich dahin geltend machen wird, daß ein entsetztes v und ein grimmig blickender w mir den Geraubten energisch und für längere Zeit abfordern werden. Aber den Ritt über x und zur Unendlichkeit hat er doch mit mir gemacht und wird er nicht so leicht vergessen... und wenn er gar meine Ohren hat...!|

Aus diesen {Sprüngen} meiner Phantasie werdet Ihr ermessen, wie vergnügt mich die Nachricht gemacht hat. Nur um y hab ich noch etwas Sorge und bitte, solange es ihr noch minder gut geht, um tägliche Bulletins. Hier ist jetzt das schönste Wetter geworden, genau am 14ten Nachm. 4 Uhr fing es natürlich an, da große Ereignisse ihr Licht weithin werfen; es ist so kalt, daß man denkt in z zu sein, Reif und Schnee bedecken die Felder und in der Ferne hört man die Kanonen des III. Corps donnern.

Im übrigen habe ich drei Bitten.

1. Zu Weihnachten eine neue Reithose, genau wie die erste bei Peek und Cloppenburg; nur soll das Wildleder die ganzen Kniee bedecken.
2. Sofort Schuhöl von Salamander Friedrichstr. 2-3 Kapseln, zu fragen im Laden für braune Offiziersstiefel, dazu mehrere Büchsen gelber Schuhcrème.
3. ür die Weihnachtsbäume, für die wir sorgen müssen, 100 weiße Kerzen (unsere kleine Sorte), ebenso viel Halter und 12 Schachteln Engelshaar.

Und nun, liebes aa, laß es Dir gut gehn! Es freut sich mit Dir,

Dein ältester Junge!

ab an ac soll auch ad bekommen.


Fußnoten, Anmerkungen

1Liegt nicht vor.
2Liegt nicht vor.

Register

aBieuxy
bFritz, Johanna
cFritz (geb. Horn), Gertrude
dFritz, Johanna
eBonin, Henning von
fBackhaus, Alwin
gFritz, Alfred
hFritz, Johanna
iFichte, Johann Gottlieb
j???, Hildebrand
k???, Kunibert
lAugustinus
mFritz, Alfred
n???, Kunibert
o???, Hildebrand
pTillich, Paul
qBerlin
rParis
sAugustinus
tTillich, Paul
uFritz, Eckehardt
vFritz, Johanna
wFritz, Alfred
xParis
yFritz, Johanna
zRussland
aaFritz, Johanna
abBrief von Paul Tillich an Eilsabeth Tillich vom 17. November 1914
acSeeberger, Elisabeth
adTillich, Margarete

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/143(13)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bieuxy - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Johanna Tillich an Paul Tillich vom 22. April 1911
nächster Brief in der Korrespondenz
Postkarte von Paul Tillich an Johanna Tillich vom 5. Juni 1917

Entitäten

Personen

Orte

Briefe

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Johanna Tillich vom 20. November 1914, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00404.html, Zugriff am ????.

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