Brief von Paul Tillich an Eilsabeth Tillich (Umschlagsadresse Alfred Fritz) vom 17. November 1914

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Bieuxy, d. 17 Nov.

L. E.!

Gestern erhielt ich Papas Brief mit den verschiedenen Fragen. Also: Meine Division hat 2 Brigaden, die 13. und 14te. Die 13te befehligt General von Dreßler; dazu gehören die Reg. 27 u. 36 (Halle), außerdem ein Bataillon Jäger Nr. 4 (Naumburg) befehligt von einem Oberstleutnant Kinzl. Zur 14. Brigade, die befehligt wird von General v. Winkowsky gehören die Regimenter 66 und 72, natürlich immer mit dem Zusatz: Reserve. Zur Division als solcher gehört noch ein Kavallerieregiment, „schwere Reiter“ d. h. ein Reserveregiment zu den Halberstädter Kürassieren; ferner ein Regiment Feldartillerie, Oberstleutnant Krubin, dann die „Große Bagage“, Munitionskolonnen und Fliegerabteilungen. Da das Höchstmögliche ein Batallion für den Gottesdienst ist1], könnt Ihr Euch denken, wieviel wir zu tun haben, wenn wir durchkommen wollen. Aber natürlich ist die Infanterie lange nicht immer erreichbar. --
Der Kommandierende des Korps ist Exz. von Gronau, der Armeeführer ist Kluck. Bei unserem Stabe befinden sich jetzt folgende Leute, angeordnet nach unserm Sitzen bei Tisch: Links von Exz. der Generalstäbler Hauptmann Ahrens, der alles macht und faktisch die militärische Leitung der Division hat, Exz. schwebt darüber, was aber im Sinne eines Lobes gemeint | ist. Ahrens ist ein Kraftmensch, wiegt über 2 Zentner, ohne darum dick zu sein, ist höchst intelligent und hat einen unerschöpflichen Vorrat von Kraftausdrücken zur Verfügung; er ist katholisch; neben ihm Rittmeister von Peskatore, lang, schneidig, Novarle, absolut aristokratisch und unbedingt korrekt; dabei von den weisesten Interessen, mir außerordentlich sympathisch, auch katholisch, Rittergut in Mecklenburg;dann er ist zweiter Adjudant. Dann der Kommandant unseres Quartiers, Oberleutnant Freud, Gutsbesitzer, schimpft auf Arbeiter, möchte nach Haus, persönlich sehr liebenswürdig; auch katholisch. Dann der katholische Pfarrer Dietrich, schwarz gekleidet, zart, liebenswürdig, fanatischer Franzosenhasser, scherzend, meistens nichts tuend. Dann Gerichtssekretär Hereike, brummig, fühlt sich nicht wohl unter den Offizieren. Dann mein Kollege Backhaus. Dann der Oberstabsarzt Rosental, nicht Jude, nicht ganz ohne zynischen Anstrich, aber riesig liebenswürdig, will, daß ich nicht so viel arbeite. Dann der Kriegsgerichtsrat Müller, sehr liebenswürdig, besonders am Anfang nahm er sich meiner an. Dann ein Jägeroberleutnant Bogmann, in Kiel Assessor, zurückhaltend, klug, gewitzt. Dann | ein Herr von Cordier, Oberleutnant der Feldtelephonabteilung, Ingenieur bei Krupp, kennt Immanuel Fritz sehr gut. Dann ich. Dann der Oberarzt Theel, Adjudant des Oberstabsarztes, Freund von Richard Hafemann von der Pepi¿¿¿ her. Dann Hauptmann Bolkansky, der erste Adjudant zur Rechten von Exzellenz; das sind der Knaben alle. Daß ich neben dem Oberarzt sitze, wird Papa gewiß freuen. Gestern bin ich nun auch Typhus-geimpft; es war Kriegsbefehl; es tut ziemlich weh und verursacht etwas Fieber. – Mit Backhaus wohne ich in einem Zimmer. Wir besprechen alles und verteilen uns dann; jetzt arbeiten wir immer zusammen in den Abendmahlsgottesdiensten; wenn möglich, nehmen wir noch einen Lazarethpfarrer zur Hilfe, so habe ich neulich unter Assistenz eines Lazarethpfarrers und eines Feldwebels, der Pastor ist, 740 Mann das Abendmahl in einer Stunde gegeben, in einem Hofe, z.T. unter einer offenen Scheune. Morgen, Bußtag ist hier Abendmahl; Backhaus und ich gehen auch. Backhaus hält die Rede, ich die Liturgie. Sonntag hatte ich einen anstrengenden Tag, erst hier beim Stabe Gottesdienst, dann das große Abendmahl, wo ich | die Rede hatte. Dann am Nachmittag sollte ich in einem ziemlich entfernten Dorfe 2 Gefallene beerdigen; ich bekam ein Auto und blieb mit ihm stecken, ging zu den in der Nähe stehenden schweren Reitern, bat den Kommandeur um 10 Mann, die das Auto aus dem Dreck holten und für mich um ein Pferd und einen Reiter, dann ritt ich los, kam um 7 an; die Beerdigung war schon gewesen, aß bei ein Paar Ärzten, die gefangen gewesen waren, Abendbrot, und ritt dann mit den Reitern (ich hatte 2 zur Begleitung bekommen) zurück. Beleuchtet wurde unsererSch¿¿¿ Weg durch eine weiß- und rotglühende Scheune oben auf dem Berg, die am Morgen während meines Gottesdienstes in Brand geschossen war; wir hatten während meiner Rede die Granaten zischen hören. Wir ritten Schritt durch ein Tal und ich fing an, Choräle zu pfeifen und die beiden pfiffen und sangen mit während des ganzen Rittes; es war für mich wie ein sehr stimmungsvoller Gottesdienst. Im letzten Dorf gings dann in schnellem Trab auf dem feinen Kavalleriepferd durch die Nacht. | Mein Schimmel bewährt sich glänzend. Gestern ritt ich mit ihm 3½ Stunden durch Dreck und Regen schnellen Trab und es schadete ihm nichts. – Für Papas Brief bin ich sehr dankbar, wie überhaupt für alles, was von Hause kommt. So in manchen Dämmerungsstunden merkt man doch, daß man nicht zu Hause ist, sondern recht weit in allerlei Schrecknissen. Da ist dann die Ankunft der Post immer der große Moment, der entweder eine Freude oder eine Enttäuschung bringt. Für die Zeitung bin ich sehr dankbar und bitte sehr, sie weiter zu bestellen. Heute bekam ich die vom 13ten, also nur 4 Tage Unterschied. Wichtige Ereignisse erfahren wir durch Zeitungsdienst und Funksprüche sehr schnell, und sehr schnell ist dann auch der Sekt da – trotz Frede. Vielen Dank für seine Briefe; sie sind beide angekommen. Von dem Gret habe ich einige ganz wundervolle Briefe bekommen, die immer meine ganze Wonne sind; es scheint also, daß alles ankommt; auch von Eckhardt und Käthe Neumeister und Edith kam was an, dito zwei Wingolfsbriefe, von denen einer eine Notiz über mich und meinen Kanonenvortrag enthält. Was Sendungen betrifft, so steht Hildebrandschokolade und „Buchstaben“ in erster Linie, Sandtorte von Tante Emma und Quittenbrot von Gret, waren auch | Schickt sofort 50-100 Briefumschläge! nicht unerwünscht. Sehr erquicklich sind Dinge zum Knabbern in jeder Form und Gestalt. Zigarren an meinen Burschen Schröder, Offiziersbursche, Stab der 7. Res.-Division sind hin und wieder gut; doch haben wir an solchen Dingen ziemlichen Überfluß. Den neuen Waffenrock trage ich immer außer wenn ich in Funktion trete. Talar und Lutherrock werden wohl in derselben Packung, wie abgegangen, wieder zurückkommen. – Über Unvorsichtigkeit braucht Papa keine Angst zu haben, im Gegenteil, ich bin eher zu vorsichtig, was leicht zu falscher Ängstlichkeit führt.
Hier wurde bekannt, daß in den Kämpfen vor Ypern bis etwa vor 8 Tagen die dort versammelten 10 Armeekorps 58000 Tote und Verwundete gehabt haben, eine schreckliche Zahl. Hier sind neulich bei der 20 stündigen Kanonade, b. der die Franzosen mindestens 20000 Granaten gegen einen Schützengraben warfen, 30 Leute gefallen und 60 verwundet. Bei dem dann folgenden Angriff, der sehr schlapp war, wurden die Franzosen ganz leicht zurückgeworfen und hatten ca. 200 Tote und Verwundete: Ein erstaunlicher Mißerfolg, der die Unfähigkeit der französischen Infanter. zeigt, die nicht mehr zum Sturm zu bringen ist.

Herzl. Gruß
Dein tr. Paul.
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