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Naumburg , den 27.04.1911

Mein lieber Paulo!

Eine Bitte, die ich Dir gegenüber ansprechen möchte, veranlaßt mich, an Dich zu schreiben. Vielleicht hast Du schon von andrer Seite erfahren, daß mir das Referat beim Wartburgfest über „Bundesprinzip“ und „Aktivitätszwang“ übergeben ist. Diehl hat das Vorreferat. Meine Anschauungen habe ich ja schon in den W. Bl. einigermaßen geäußert, sodaß Du recht in der Lage bist, Dich darüber genauer zu orientieren. Ich möchte Dich nur bitten, mir Deine Gedanken darüber, Einwände oder Ausführungen mitzuteilen. Vielleicht kannst Du mir auch einen kurzen Rückblick auf die letzte Entwicklung im Wingolf (bes. Wartburg 07) geben. evtl.eventuell mir vorhandene Protokolle verschaffen. Außerdem möchte ich Dich bitten, mich aktiv oder wenigstens passiv (d.h.das heißt ohne mich zu bekämpfen) zu unterstützen. Ich hoffe Dich auf | dem Wartburgfest wieder zu sehen. Albert wird wahrscheinlich auch da sein und zwar als flotter Jägersmann. Hast Du Fühlung mit dem Bunde? z.B.zum Beispiel Berlin? Kannst Du da evtl.eventuell etwas veranlassen… Jedenfalls war es doch auch Dein Wunsch, daß der Zustand 07 nicht konstant würde. Vgl. Schlußwort zu den Beschlüssen 07 auf der Wartburg und Hallenser dauernder Konventsbeschluß. Ich bin gern bereit, mich noch brieflich über manche Fragen betr. Bundeskonstitution mit Dir auseinanderzusetzen... Außer diesem möchte ich Deine Hilfe auch noch in etwas anderem in Anspruch nehmen. Ich bin durch die plötzliche Überweisung des Wartburgreferats in meinen hiesigen Arbeiten etwas behindert. Da ich hier ein sehr exponierte Kampfesstellung habe, möchte ich mit meinem Referat „die Trinitätslehre in der neueren Theologie“ einen kräftigen Schlag führen. Aus Deiner Doktorarbeit, an die ich immer wieder nach manchem vergeblichen Vorstoß herangehe, ersehe ich, daß Du ganz tiefgehende Einsichten | in das gesamte Gebiet der neueren Dogmatik haben mußt. Gerade das, was Du über den Unterschied von Schelling u.und Schleiermacher entwickelst, hat mir sehr imponiert. Auch das Hinausgehn über Fichte wird mir allmählich verständlich. Gerade in der Trinitätslehre muß doch Schelling richtige Wege gewiesen haben; wie sind diese dann in der Theologie verfolgt worden? Oder wie sind sie noch zu verfolgen? Leider hatte ich mich im vorigen Sem. mehr mit anderen Fragen beschäftigt. Ich studierte immer aufs gerade Wohl z.B.zum Beispiel Stammler: „Wirtschaft u.und Recht“. so bin ich leider jetzt nicht in der Lage genügend das Gebiet der Dogmatik zu überschauen. Vielleicht kannstDu mir einige Wegweiser geben und mir Literatur anweisen. Unser Dir. Kalweit ist sehr gelehrt und ein systematischer Kopf; er ist völlig „Heim“schüler; er schwankt in seiner Theologie zwischen Tröltsch u.und Kähler; dabei ist er spekulativer Theologie „Hegel“ sehr abhold, das ist bei seinem Skeptizismus verständlich. Die Herrn Kandidaten sind sämtlich historisch verderbt und | z.zum Teil populär liberal. Die Hallenser Theologie schätze ich immer mehr, je mehr ich andere Theologie schlucke. Nur ist es schrecklich, stets zu elender Stümperei verurteilt zu sein; wie beneide ich Dich um Deine Arbeitskraft und Deinen Intellekt. Na, jedenfalls ahne ich, worauf es ankommt und habe so manche Lichtblicke. Hoffentlich kann ich wenigstens im praktischen Amt meinenMann stehen; hier in Schlesien ist große Not. Okt. werde ich wohl schon ein Pfarramt verwalten müssen. Meine armen Nerven! Wie geht es Dir? Wann machst Du Deinen Lic. u.und worüber? Ich freue mich schon darauf, auf einer gemütlichen Landpfarrefern von dem Kampf der großen Geister Deine Bücher lesen zu können, d.h.das heißt wenn ich sie verstehe. Doch ich will nicht elegisch werden; ich habe ja recht praktische Aufgaben, die zu lösen sind. Wenn Du mir helfen kannst, dann bitte tue es auch!

In treuer Liebe u.und Freundschaft
Dein Johannes Kilger
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