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Halle (Saale), 20. XII. 07.

Mein liebes Paulchen!

Für Deinen lieben Brief habe herzlichen Dank! Mehr als ein Monat ist schon vergangen, seit ich ihn erhalten, u. da muss ich doch endlich antworten, resp. Deine verschiedenen Fragen beantworten, die Du in ihm an mich stellst.

Die erste Frage bezog sich auf meine Umsattelung. Sie beantworten, hieße eine große "Generalbeichte" ablegen über diesen bedeutsamen Schritt, den ich da getan. Es ginge nicht in diesem Brief hinein alles, was ich Dir da zu sagen hätte. Sodann aber käme es auch der Aufgabe gleich, eine wichtige, folgenreiche u. sehr bewegte Periode meines ganzen Entwickelungsganges zu schildern.| Du wirst es verstehen, wenn ich das jetzt noch nicht tue, am allerwenigsten mit dürren Worten in einem Briefe. Das kann ich nicht; dazu liegt das alles noch nicht weit genug hinter mir! –

Du fragst mich im Weiteren, nach m. Leben in der Verbindung, zunächst, ob ich der Lösung des Problems vom vorigen Semester näher gekommen sei. –

Ich will versuchen, meine Gedanken über diesen Gegenstand, im allgemeinen wie im speziellen, zu Papier zu bringen.

Ich glaube, daß die Hallenser Verbind. so wie sie ist (Du weißt, daß ich damit kein abfälliges Urteil fällen will), nicht im Stande ist, bei einer Activitas von 68, die Aufgaben zu erfüllen, die sie erfüllen sollte u. erfüllen möchte, an der Verbindung als ganzem, sowie an den einzelnen, die dieses ganze bilden.

Warum? – Der Raum langt nicht, alle Gründe in extenso vorzubringen. Zunächst: wir haben zuviel jüngere Semester, u. es fehlt an älteren Semestern,| es ist Mangel an Leuten, wie Fr. Büchsel, H. Schafft, Paulchen Tillich (nicht zu vergessen) u. a.

Für die Kräfte, die da sind, ist eine Activitas von 68 zu groß. Der einzelne widmet sich bald diesem, bald jenem, bald einem dritten u. so fort, daß er ja Reih um komme, – die Arbeit bleibt "Stückwerk".

Du wirst mir vielleicht an einem Beispiel das Gegenteil dartun wollen u. sagen: Wenn ich mir einen zum Abendwimmel oder Kaffong etc. einlade, kann ich mich ihm doch 2-3 Stunden widmen, da kann man doch wahrhaftig genug reden, was willst Du denn mehr, das genügt; so sehr kommt es nicht auf die "Quantität" des Verkehrs an! – Und doch! Einem, mit dem ich oft zusammen bin, erschließe ich mich mehr u. spreche ich mich mehr aus, als einem, mit dem ich vielleicht alle 3 Wochen einmal einen Abendwimmel baue. – Es liegt gewiß eingroßes Körnlein Wahrheit darin! – Damit der einzelne in der Verbindung dem Bruder etwas sein kann, muß er ihn vor allen| Dingen kennen u. jener den anderen. Zum Kennenlernen aber braucht man Zeit, der eine mehr, der andre weniger, je nach Alter u. Lebenserfahrung u. dem Maße der Liebe zu den Mitmenschen. – Ich behaupte, in einer Activitas von 68 hat man dazu nicht die nötige Zeit. –

Die Consequenz ist also: wir dürfen nicht so viele aufnehmen. Wir sind doch kein Erziehungsheim für solche, die noch so allerhand zu lernen haben, teils äußerlich, teils innerlich: –Ein Inaktiver Witte sagte einmal hier auf einem Kaffong zu Beginn des Semesters: "Kinder nehmt nur möglichst viel auf, daß wir den Bund recht mit Hallenser "verseuchen"!" Ich glaube, von den vielen, die wir auf- nehmen, werden es immer nur einzelne sein, die, wenn sie in den Bund hinauskommen, diesen nachhaltig nachhaltig beeinflussen. – Lasst uns qualitativ wirken im Bunde, statt quantitativ! Das erstere werden wir können, wenn wir uns im kleineren Kreise consolidieren.-| Ich habe im allgemeinen gesprochen; ich will nun auch von mir sprechen, weil Du danach fragst. Ich fasse alles in den einen Satz zusammen. Ich erkenne viele Aufgaben in der Verbindung, an deren Lösung ich mitarbeiten könnte; im jetzt verflossenen Quartal hatte ich nicht die moralische Kraft dazu sowie die nötige Freudigkeit (eine Tatsache, die ich oftmals sehr schmerzlich empfand). Ich hoffe u. wünsche, daß es im kommenden Quartal, den letzten 2 Monaten, die ich noch in Halle bin, besser gehen wird.

Die Activität in der Verbindung so wie wir sie auffassen (ich denke jetzt nicht an die eine Seite, das Betrieb schieben, auf die Inoffizielle gehen etc.) gehört mit zum Idealsten, was ich kenne; besonders für die Theologen unter uns, aber auch die Juristen (beinahe hätte ich gesagt: den) u. Philologen; sie ist keine treffliche Vorübung im kleinen Kreise für die Arbeit die wir später, wenn wir im Amte sind, zu leisten haben. –

Ich gehe nun auf D. weiteren Fragen ein: Du willst wissen, was| der Geist in der Verb. macht. – Er ist gut! Wir haben überhaupt gutes Material von Leuten in der Verbindung. – Möchten viele, recht viele diesen Hallenser Wingolf als tüchtige Persönlichkeiten verlassen! –

Wie ich mit dem xx u. xxx zufrieden bin? – In die Tätigkeit des xx besitze ich nicht genug Einblick. Der xxx ist ein "Schlemmerkerl"! Ich hoffe Deinem Widerpart bei der Wahl nicht un- recht zu tun, wenn ich sage, daß ich unsern nunmehrigen xxx für eine viel gereiftere Persönlichkeit halte, als den vom A.–H.–C. vorgeschlagenen.- Ich ahnte schon damals, was in ihm steckte, als ich ihn auf Biegen oder Brechen zum Confuxia-Ehrenphilister haben wollte. Mit Hülfe von c.10 Kaffongs gelang mir ja dann auch die Sache glatt. Mit dem Sprechen u. Redenhalten ging's beim xxx im vorigen Semester ja nicht so hervorragend. Jetzt spricht er fließend, u. wirft einem nicht mehr immer so einzelne Worte an den Kopf. – Die Füxe haben ihn sehr gern, hörte ich neulich.| Über den x schreibe ich nichts; "denn über ihn steht ja Dein Urteil a priori fest." – Was meine "Bezogenheit auf mein Conhaus" betrifft, so ist das mit wenigen Worten gesagt. "Wir wohnen nebeneinander". Indessen keineswegs wie Hund u. Katze, wir vertragen uns sehr gut u. ich schätze eine ganze Menge an ihm, was schätzenswert ist; aber gerade besonders nahe stehen wir uns nicht.

Es liegt hier nahe, an mein Verhältnis zu Spatz zu denken. Obwohl Du nicht danach fragst, möchte ich doch auch darüber etwas sagen, weil es hierher gehört. Ich weiß nicht, ob ich richtig urteile, wenn ich sage, wir sind uns nicht näher gekommen in diesem Quartal, vielleicht etwas mehr auseinandergekommen. – Leider! – Ich hab ihn so gern.

Ich hatte gedacht, Du kämst zu unserer Weihnachtskneipe herüber, aber ihr hattet wohl am selben Tage Kneipe. Überhaupt war ich so manches mal enttäuscht, als falsche Gerüchte umgegangen waren, Du kämest. – Wie geht es in Berlin? Was macht Albert Kilger? Wagner, mein Landsmann! Graeber u. Vater Rhein? –| Das Erbauungskränzchen an Weihnachten hielt L. u. Weber. Es war eine treffl. Predigt. – Nun aber 2 Fragen: Hat es einmal überhaupt Zweck, vor Weihn. ein Erbauungskränzchen abzuhalten? Die Berechtigung eines solchen Zuschlags u. Beginn des Semesters liegt auf der Hand: Zweitens hat es Zweck, wenn es von einem Nichtwingolfiten gehalten wird; der dann eben eine Predigt hält, wie sie in der Kirche auch gehalten wird? –

Eine andere Institution gibt auch noch Anlaß zu Erwägungen über ihre Berechtigung. Ich meine die Weihnachtsauctionskneipe. Ich will mich möglichst kurz fassen:

1.) auf dieser W.auctionskneipe haben eine ganze Reihe über ihre Kräfte gesteigert. Leute, die von Stipendien leben müssen, einer, der nichts zu Weihnachten geschenkt kriegt, weil's dazu nicht langt. Leute, die bei der Jubiläumskasse Schulden haben u. sagen sie könnten's nicht bezahlen u.s.w. Ich kann noch verschiedene Beispiele anführen.

2.) Es hat eine große Reihe gesteigert, in der Meinung, dies für einen guten Zweck zu tun u. nachher hörten sie, es sei zu 60% für die Hauskasse.| Man gebe doch dem Kinde den rechten Namen, erhebe meinetwegen eine Haussteuer proportional der Werkssteuer.

3.) Die Verbindung bestimmt, daß der Einzelne für mindestens 2 M. steigert. Also: Eine "Wohltätigkeitssteuer"; ein Zwang zur Wohltätigkeit. Ich lasse es mir gefallen, wenn der Staat eine solche etwa auf Luxusgegenstände erhebt, wie in Österreich auf die Ansichtskarten. Als ich noch auf dem Pennal war, wohnte ich mal 1 Jahr bei einer Pfarrerswitwe, die schrieb am Schluße jedesQuar Tertials ihren Pensionairen u.a. 4 M. für Mission auf die Rechnung; als ich die erste erhielt, sagte ich: Frau Pfarrer, erlauben Sie, daß ich erst mal meinen Vater frage, ob er damit einverstanden ist. Als ich's nun meinem Vater erzählte, war er höchst erstaunt, sagte: ich zahle in die u. die Missionsgesellschaft u. so u. soviel, unterstütze die u. die wohltät. Unternehmen, das ist m. Sache, Du verdienst noch kein Geld, die 4 M. zahlst Du nicht.| Mir kommt die Verbindung in diesem Falle vor, wie jene Pfarrerswitwe.

Es schließt sich hier mein 4. Punkt an: Es waren einzelne höchst erfreut, über diese "allgem. Opferwilligkeit". War es das wirklich, wenn die Leute 10, 20 ja 30 M. für einen guten Zweckan ihrem Vater, der es event. gar nicht übrig hatte, aus der Tasche zogen? – (636 M.! gingen im ganzen ein.) Ja, die Leute, die ihren bestimmten Wechsel haben, die können sich so was ersparen u. haben nun auch das Recht, sich über das Opfer, das sie bringen, zu freuen – Die Tatsache aber, das ein großer Teil der Verb. keinen festen Wechsel bezieht, macht das erstere gegenstandslos.

5. Die Bescherung: Ist sie nicht eine gewisse Art von Couleurvertretung? Wollen wir nicht als christl. Verb. uns da etwas vor der Öffentlichkeit zeigen? Ein Bisschen mag dies Motiv mitspielen. Einzelne sagen: ja, das macht mir| zu große Freude, wenn ich da all die Kinder sehe, wie sie sich über die Geschenke freuen; dieses Vergnügen möchte ich nicht missen. (so z.B. Spatz.)

Der Grund dagegen kommt noch, ich möchte nur vorweg bemerken: Wer diese Freude haben will, kann in Kirchen oder Schulen gehen am heiligen Abend oder vorher, da kann er diese sich meinetwegen 3x an einem nachm. hintereinander verschaffen. Mit anderen Worten: das angeführte Moment ist noch kein Grund für d. Sache. Nun aber: 6.) Ich behaupte, die ganze Sache ist z. Teil ein "spectaculum", das wir unseren Activen, Gästen, Damen u. Professoren etc. geben, u. die Eltern der Kinder fühlen sich bei uns in dieser feinen Gesellschaft (rings an den Wänden die Activen in Gehröcken!) höchst unwohl. – Es ist ganz etwas anderes, wenn so eine Bescherung in Schule oder Kirche, einem dem Volke wohlvertrauten Orte, stattfindet, wo es gewohnt ist, sich zu bewegen; aber hier; – kannst Du Dich hinein versetzen? Warum wollen wir immer gleich selber etwas davon haben, wenn wir mal etwas Gutes getan? –| "Die rechte Hand soll nicht wissen, was die linke tut", das Sprichwort hat seine guten Gründe. Man sammle in irgendeiner Form, ohne einen Zwang auszuüben u. schicke das Ganze an die Stadtmission oder P. Meinhof oder andere, mit Zweckbestimmung, und – anonym! Jeder gebe nach Vermögen von seinem Ersparten u. er hat ein Recht, sich zu freuen. – Dies ist die Art, die mir sympathisch wäre! –

Ich möchte schließen; es ist schon 1/4 2 !

Die Ferien über bleibe ich hier, weil sich die weite Reise nach dem Elsass für die kurze Zeit nicht lohnt, u. ich ausserdem eine ganze Masse Arbeit erledigen möchte.

Leb wohl u. sei herzlich gegrüßt, u. erfreu mich "zu Weihnachten" mit einem Briefe!

In steter Dankbarkeit u. herzl. Zuneigung bleibe ich Dein getr.
O. Heller, stud. jur. et. can. Wingolfzirkel
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