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Göttingen, 28.11.07.

Lieber Paul!

Obgleich ich eigentlich keine Zeit habe, will ich doch den auf der Karte versprochenen Brief schreiben, um Dir von Großalmerode zu erzählen. Also zunächst verbrenne die proletige Karte, derer ich mich bis auf den Grund schäme.

Am Sonntag verabredeten wir 5 Theologen uns, die Tour zu machen. Wir hatten viel von der Bewegung gehört, ich speziell von meinem Lbb. in Hofgeismar, es war fast zu einem Austritt der dortigen Liberalen aus der Landeskirche gekommen. Am Sonntag Morgen in aller Frühe 1/2 5 fuhren wir hier mit der Bahn los, es fing ganz sachte an zu schneien. Um 1/2 7 kamen wir in Witzenhausen an, von wo wir noch 3 Stunden zu laufen hatten. Inzwischen hatte es immer stärker geschneit,| und es schneite die ganze Zeit, sodaß wir bald wie Schneemänner aussahen, dabei ging es andauernd bergauf, u. vom Schnee rutschte man immer etwas zurück. Um 1/2 10 kamen wir an und hatten gerade noch Zeit, uns etwas zu wärmen u. zu stärken. Um 1/2 11 fing die Kirche an, Pastor Holzapfel, der Führer der Gemeinschaftsbewegung predigte. Die kleine Kirche faßte unglaublich viele Menschen u. sie war ganz voll, die Liturgie war ganz besonders fein, ebenso der Gemeindegesang. Der Text war Matth 25,1-13 die 10 Jungfrauen. Er verlas auch diesen Text, seine Predigt stand jedoch damit in keinem Zusammenhang. Weil Totensonntag war, predigte er über die Todesgemeinschaft, ein sehr feines Thema, das führte er auch ganz gut aus, allerdings mit besonderer Betonung des Geistes usw. Er hatte uns wohl bemerkt, denn er ließ eine kurze Apologie einfließen, etwa "Ist das nun unbiblisch, ist das schwärmerisch, oder ist das nicht gerade biblisch!" Auch die moderne ungläubige Wissenschaft wies er mit schwersten Worten ab, auch ohne viel Zusammenhang mit dem Thema. Natürlich war die Predigt nicht präpariert, da ja der Geist es ihm eingeben muß, und dafür war die| Predigt fein. Vor allem merkte man, daß er eine energische und tief religiöse Natur ist, fern von jeder Süßlichkeit. Die ganze paulinische Theologie von Geistern u. Dämonen und eben der Gemeinschaft mit Christo brachte er. Am Nachmittag gingen wir, nachdem wir zu unserem großen Bedauern gehört hatten, daß keine Gemeinschaftsversammlung an dem Tage stattfände, zu ihm, um ihn auch persönlich kennen zu lernen. Er war nicht da, aber seine Fraunahm behielt uns sogleich zum Kaffee. Endlich kam er und widmete sich uns: das waren 2 ernste Stunden inneren Ringens mit uns und ihm, aber er konnte uns nicht überzeugen. Seine Ansicht ist etwa so. Man muß Christum annehmen, seinen Willen tun, ohne Rückhalt, ohne jeden inneren Widerstand; dann bekommt man den Geist, den er sich fast wie eine Materie denkt. Damit ist man bekehrt, der Geist äußert sich nun in den Früchten, die eine völlige Umwälzung des Menschen verursachen, die sich auch in der Gnadengabe, Zungenreden, Beten, Auslegen usw. 1 Kor. zeige. Auch von Krankenheilungen wird viel erzählt. Nun erscheint einem auch das Neue Testament u. das AT in einem ganz| anderen Lichte. Waren für den menschlichen Geist Widersprüche und Unklarheiten drin, so rückt der Geist alles unter die Betrachtung für die Bedeutung Jesu, und jedes Wort hat seinen Sinn. Der Geist hat ja auch die Verfasser beim Abfassen und die Kirche bei der Aussonderung des Kanons inspiriert, so daß nun imGeist Kanon der Geist widerlegt hat, was wir für unser ganzes Leben, für die ganze Geschichte, für alle Kultur haben.Wir Daher ist Wissenschaft u Kultur überflüssig, ja es leitet nur ab. Der Geist bewirkt ja, daß z.B. die Kirche des NT überflüssig wird usw., auch die ganze Teufeltheorie ist anzunehmen, im Menschen sitzen meist mehrere Teufel, die daran hindern daß man Christum annimmt. Sohn muß man eben ganz erfassen, ohne auf die Vernunft zu hören, seinen Willen tun, sich mit anderen Weltanschauungen zu beschäftigen, und dann einer sich anzuschließen, ist auch falsch –. Daran ist sicher viel richtiges, aber man kann doch nur mit Reserve zustimmen. Besonders anziehend ist vor allem die Betonung des "an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", aber auch darin sind sie einseitig.| Das scharfe Urteil über "Unbekehrte" haben sie mit allen Gemeinschaftsbewegungen gemein.

29.11.07.

Gestern wurde ich gestört, u kam Abends nicht mehr zum Schreiben, ich will jetzt das Seminar bei Titius etwas weiter machen. Wir lesen da Kants ethische Schriften, die Du natürlich längst intus hast; ich habe viel davon, weniger vom Seminar als von der Lektüre, ich mache mir immer Exzerpte. Bis jetzt haben wir die Prolegomena zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gelesen und sind mitten in der Kritik der praktischen Vernunft, die wir noch vor Weihnachten beenden. So lernt man doch Kant etwas kennen. Ich habe eine Arbeit zu liefern über den Streit d. Fakultäten, am 7. Februar; hoffentlich fällt das nicht mit dem Februarkommers zusammen. Am 22. Febr. habe ich eine Predigt zu halten über 1Thess. 5,9 u. 10. Als Thema denke ich mir "Unsre Seligkeit besteht in der Gemeinschaft mit Christen, 1. Christus hat sied.h. durch seinen Tod erworben, 2. wir erlangen sie, indem wir mit ihm sterben, Schlußged: Erst dann haben wir rechtes Leben in ihm." Was meinst Du davon? Z.T. hat mich Holzapfels Thema beeinflusst, auch| die Erinnerung an einige Collegs bei Schmuhl.

Die Sache Erlangen-Halle klärt sich ja auf, alle 7 haben um Entschuldigung gebeten, die Philister sind auf die Seite der Verbindung getreten. Erlangen wird nächstens in einem Bundesbrief den Verkehrsbruch mit Halle rückgängig machen.

Am 27. hatten wir hier unsern Arminen Kommers mit Landesvater, der sehr nett verlief. Ich sprach mit Tielking und Hukmann I, der keinen Conlands hatte finden können u. mich schon lange fragen wollte, es aber versäumt hatte. Das machte aber nichts aus, ich verkehre mit den beiden am meisten, es ist doch fein, wie die Hallenser gleich anderswo eng sich zusammenschließen können. Mit Heinzelmann komme ich doch wenig zusammen, er hat viel zu tun, und ich auch, im Stift wird er außerordentlich geschätzt, er hat einen freiwilligen Stiftsabend neben den offiziellen eingerichtet, auf dem Geschichte der Philosophie getrieben wird. Heinzelmann verkehrt sehr viel mit Gerd Frieshammer Wingolfzirkel !, der hier als 9. Semester herumläuft. Ein Hallenser u. Marburger Philister ist jetzt hergekommen, ein| Hilfsprediger Stefan, wann er Vikar war, weiß ich nicht. Professoren waren leider nicht da, da denselben Abend eine Festlichkeit beim Kurhaus stattfand. Heute Abend werden wir über die Inaktivenfrage behandeln, davon will ich doch auch berichten.

1.12. Bisher kam ich nicht wieder dazu. Das Göttinger A.H.C. schlug vor, 4 Semester zu verlangen, nach 2 Semestern bekommt man das Band, wenn eins ein Burschensemester war. Gegen beides ging ich an, mindestens 5 müssen verlangt werden,da u. nach 2 Fuxsemestern muß einer das Band haben. Mit ersterem dringe ich vielleicht durch, aber kaum mit dem letzten, das erstere ist auch wohl wichtiger.

Doch ich muß jetzt schließen. Herzl. Grüße an Kilger, der mir noch sein Typ schuldet, bestelle auch Deinem Vater, Deiner Schwester freundlichen Gruß von
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    • Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga 1783 
    • Kant, Immanuel. Critik der practischen Vernunft. Riga 1788. 
    • Kant, Immanuel. Der Streit der Fakultäten. Deutschland: Nicolovius, 1798.