Brief von Lorenz Bertheau an Paul Tillich vom 19. August 1907

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Der editierte Text

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a 19. 8. 07. 8 1/2 vorm.
Mein liebes b!

Eben sind wir mit schruppen [sic!] fertig, denn heute fängt die Schule an, und so sind wir schon seit 5 im Gange. Doch nun zuerst einen herzl. Glückwünsch zu Deinem Geburtstag. Ich wünsche Dir noch eine schöne Studienzeit u. auch Studentenzeit in c. Hoffentl. triffst Du es nett in der Verbindung. Immerhin bist Du da ja zu Hause u. hast so immer noch einen Rückzugsort. Ich gehe mit etw. geteilten Gefühlen nach d. Einerseits freue ich mich auf e u. f, andrerseits will mir der Abschied v g u. d. vielen Kerlen, d. man gern hatte, noch garnicht recht eingehen. Hier habe ich jetzt viel z tun u. wäh| rend der Arbeit kommt man nicht zum Nachdenken, jedenfalls ich nicht. Du würdest vielleicht dabei philosophieren. Es ist schade, daß ich so die ganz Blöden habe; es ist so garnichts mit ihnen anzufangen. Sie stumpfsinnen so ihr Leben hin u. sind bockig u. ungezogen. Dabei sind sie allerdings alle Originale: der eine läuft andauernd umher u. singt dieselbe selbstkomponierte Melodie u. unverständl. Worte dazu; ein andrer schlürft heran u. schreit, wenn ihn jem anrührt; einer ist ganz blöde u. lacht immer laut, wenn man ihn ansieht. Während ich hier schreibe brüllt einer aus einem Buch mir stümperhaften Blödsinn vor. Er fühlt sich aber dabei bedeutend wohler als ich. Die Anfälle, die bei unserer Station häufig sind, sind nicht das Schlimm| ste. Man gewöhnt sich bald an das Unheimliche, das man wirkl mit dem Ausdruck des Bessenseins [sic!] bezeichnen kann, wenn so ein armer Kerl mit einmal gezuckt wird u. schreit u. blau wird. Die Jungs sind zum gr Teil recht gr u schwer was das Aufheben b Anfällen u. d. Fortschaffen auf d Matratze äußerst erschwert. Das am schwersten auszuhaltende ist der entsetzl Möv!! Sie sind so unrein u. widerl, daß einem beim Essen völlig d Appetit vergeht. Sie sind eben einfach nicht fähig, sich im Zaum z halten. Am Nachmittag habe ich entweder v 1-3 1/2 oder von 4-6 frei, wenn nicht irgendetw. bes zu tun ist. Dann paßt mein Conbruder auf die Jungs. [sic!] Diese Zeit wird meistens zum Schlafen| verwandt freiwillig oder unfreiwillig. Man ist eben immer müde. Abends sind wir freilich meist um 8 fertig. Aber dann ist: am Dienstag Familienabend, am Mittw. Ferienkneipe, am Donnerstag Kirche, am Freitag Brüderabend, am Sonnabend Wochenschluß! So kommt man nie vor 10 1/2 - 11 z Bett. Und man wird v diesem Schuften immer müd. Außerdem fühlt man sich doch recht einsam unter diesen "Brüdern", d eben einem doch nicht das bieten, was man sucht. Ach Mann! ich möchte wohl mal einen Tag b Euch i h sein!! Wie fein muß es da sein! Grüß mir i u. Deinen j herzl v. mir! – Gestern war ich bei k in l b m. Es regnete leider den ganzen Tag. Aber es war recht ge| mütl. dort. D Eltern sind richtig nett, bes. d Mutter so fein u. freundl. Es war eine nette Abwechslung, von diesem Einerlei unter d Blöden. D Morgen mußte ich mit d Vernünftigen zur Kirche, wo {P. n} unglaubl. reich predigte. Man hat sonst v einer solchen Predigt nicht viel, weil man immer angespannt aufpassen muß, ob nicht ein Junge einen Anfall bekommt. – Die Brüder sind eine sonderbare Kathegorie [sic!] v Menschen; man merkt doch recht, daß sie nicht im Wingolf waren. Sie sind kleinlich bis dort hinaus u. zanken sich um jede Kleinigkeit. Dabei sind sie alle eigentl. riesig höfl. u. nett gegen mich, "den Studenten"; bes. mein Conbruder ist ein netter Mensch.| Doch ich will Dir nun nicht mehr lange vorerzählen v hier, zumal da ich nicht ordentl. schreiben kann, weil ich meinen Füllfederhalter leider verloren habe, doch nicht wie o's Karte1 neulich b d Jungs, sondern auf d Post. D Kleptomanie d Jungs ist sonst furchtbar, man muß sich enorm in Acht nehmen. D. Karte haben wir jetzt endl. gefunden. Irgend etw. zu lesen, oder sonst vernünftiges zu tun, habe ich wenig Zt. u. Not. Ich freue mich wüst auf zu Hause! Wenn ich nur noch mal nach p könnte! Nun leb wohl! mein Lieber! Ich wünsche Dir nochmals v. Herzen alles Gute für Dein kommendes inhaltreiches Lebensjahr! Grüße mir q recht herzl., ich schreibe| ihm erst, wenn er mir ordentl. schreibt. r indessen werde ich demnächst schreiben. Wann zieht er dort fort u. wann Ihr? Grüße auch Deinen s u. Deine t vielmals!

Dich grüße ich von Herzen!
Dein getr. u.

Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.

Register

aBethel
bTillich, Paul
cBerlin
dTübingen
eSchlatter, Adolf
fFritz, Alfred
gHalle (Saale)
hMisdroy
iLütgert, Wilhelm
jMeinhof, Heinrich
kMeyersieck, Joh.
lUbbedissen
mHillegossen
nKuhlo, Johannes
o???, Heinie
pHalle (Saale)
q???, Heinie
rLütgert, Wilhelm
sTillich, Johannes Oskar
tFritz, Johanna
uBertheau, Lorenz

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008B
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Bethel bei Bielefeld - unbekannt
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Postkarte von Lorenz Bertheau an Paul Tillich vom 11. April 1907
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Brief von Lorenz Bertheau an Paul Tillich vom 5. November 1907

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Lorenz Bertheau an Paul Tillich vom 19. August 1907, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00187.html, Zugriff am ????.

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