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Neviges, den 5. April 1907.

Lieber Paul,

Hab herzlichen Dank für Deinen lb. Brief. Leider konnte ich nicht eher dazu kommen, ihn zu beantworten; aber ich hoffe, Du wirst mich auch jetzt noch in Gnaden ansehn.

Dass Du mit einer Erkältung zu Bett gelegen hast, tut mir furchtbar leid. Hoffentlich bist Du jetzt wiederhergestellt. Sonst lade ich Dich ein, schleunigst hierher zu kommen; in der prachtvollen Luft und dem schönen Sonnenschein bist Du garantiert in wenigen Tagen wieder ganz gesund. Das Wetter war in den letzten Tagen einfach herrlich. Ich war den ganzen Tag draussen. In unsrer geschützten Laube konnte ich schon ungestört sitzen in warmem Sonnenschein, rings umgeben von dem ersten Grün der Sträucher, das jetzt mit Macht hervorbricht. Nach Tisch hielt ich sogar in der Hängematte ein | Mittagsschläfchen; Du siehst, ich führe ein rechtes Ferienleben. Hoffentlich glückt es Dir auch in der Grossstadt, ab und zu einmal Luft zu schnappen und die vernünftige Welt manchmal zu sehn. Ich ziehe täglich mit meinen sieben Geschwistern los und mache die Wälder der Umgegend unsicher. Zu Versteck-spielen, Ballschlagen usw. bietet sich überall herrliche Gelegenheit. Nur für die schönen Wanderlieder kann ich bei meinen Geschwistern trotz aller Bemühungen kein rechtes Verständnis finden, doch hoffe ich, dass das später von selbst kommt, wenn sie mal erst grösser sind. Vor einigen Tagen besuchte mich Phil. Nell hier und erzählte mir einige nicht sehr erfreuliche Dinge von Bonn, die beiden, die nach Ha. kämen, seien sehr harmlos und würden uns keine Schwierigkeiten machen. Dass ich für Kirchengeschichte schon arbeite, brauchst Du nicht zu fürchten; ich besitze den den kl. Kurtz noch garnicht. Auch bin ich froh, wenn ich | bei dem geplanten Pensum mit sehr häufigen Ausnahmen bleiben kann.

Ich habe mich kürzlich noch einmal etwas mit dem Prinzipsstreit befasst und habe auch jeden Rest von Freude an der Sache eingebüsst. Wir haben trotz aller Anstrengungen garnichts erreicht. Das einzig Positive ist das, dass jetzt jede dogmatische Engherzzigkeit, die auch vorher in der Praxis nicht geübt wurde, auch aus den Anmerkungen entfernt ist. Das ist alles wahrlich wenig genug. Ferner liegt nach meiner Überzeugung die Sache so: wie vor 3 Semestern, so stehen sich auch heute noch die Parteien ohne ganzes Verständnis gegenüber. Es schien uns in Ha. nur so, als ob man im andern Lager ganz verstanden hätte, was wir wollten. Nach wie vor wirft man uns dogmatische Engherzigkeit und fanatisches Theologisieren vor. Ein Versuch, die Lage noch irgendwie zu klären, hat gar keinen Zweck, da der Kampf | allen zum Halse heraushängt. Sie erkennen die Differenzen und den Ernst der Entscheidung nicht. Ihnen fehlt jedes Verständnis für das biblische Christentum und die christliche Verbindungsgrundlage. Sie halten die in Deinem Artikel herausgearbeitete Gegenüberstellung für ein Hirngespinst. Die Konsequenzen ihrer Stellung vertreten sie meist noch nicht ganz und wollen sie überhaupt nicht anerkennen. Und wie steht es im praktischen Leben? Gewiss sieht es in vielen Verbindungen damit traurig aus, und doch sind noch in jeder Verbindung Leute, die auch nach aussen Ernst machen mit ihrem Christentum. Und wenn man die übrigen Korporationen ausser dem S.B. ansieht (ich habe sie aus einigen Broschüren etwas näher kennen gelernt) so fällt dort auf, wie weit doch noch die bei uns am weitesten links stehenden Kreise von allen andern Gruppen gehemmt sind, und dass doch noch viel Gemeinsames bleibt, besonders vor der| Aussenwelt. Die Sachlage ist, wie mir scheint, so kompliziert, dass wir, die wir im Kampfe stehen, nur kaum ein übersichtliches Bild gewinnen können. Es ist so furchtbar schwer, zu sehen, was in Zukunft geschehen wird und wieviel noch zu retten ist; es ist fast unmöglich, den richtigen Weg zu finden und seine Kräfte so anzuwenden, dass die Weiterentwickelung den bestmöglichen (verzeih das skandalöse Deutsch!) Gang nimmt. Weil ich so ratlos bin, halte ich es jetzt für das Beste, vorläufig den Aktivitätszwang aufzuheben, und dann das Boot eine Zeitlang ruhig treiben zu lassen; so schmerzlich es ja auch ist, nicht energisch mit Hand ans Ruder legen zu können. Wie unklar noch die Sache ist, wurde mir wieder von neuem klar durch die private Nachricht, dass Bartels die Schuld an der verhängnisvollen Einfügung des "dadurch" u. "deren Mitglieder" trage und die Verbindung damit überrumpelt habe; so wird dann der Protest Göttingens doch verständlich. | Diese meine pessimistische Ansicht über den Bund wurde auf dem Düsseldorfer Philistertag, an dem ich gestern teilnahm, nicht gerade verbessert. Auf dem Konvent wurde jede Berührung des Principkampfes von weitem abgehauen; (es herrschte fast ausschließlich der "Bonner Geist" vor) es muss doch sehr schlimm stehen, wenn Philister und Aktive von dem, was für den Bund die Lebensfrage ist, einfach nichts mehr wissen wollen, obwohl die Philister sämtlich eine Aufklärung sehr nötig gehabt hätten. Ich trat energisch für weitere Verbreitung inoffizieller Bibelkränze ein, drang aber nicht durch. Sie bestehen zur Zeit nur in Ha.!! Ein Philister betonte die von der D.C.S.V. uns drohende Gefahr, doch wollte man auch darauf nicht näher eingehen. Ohl suchte energisch eine Resolution gegen den W. Bl. Ausschuss durchzubringen, um liberale Elemente hereinzukriegen, doch glückte ihm das glücklicherweise vorbei. Im S.S. wird Bonn mit| einem derartigen Antrag kommen. Es schien mir, als ob die anwesenden Philister doch meist auf unser Seite gestanden hätten und hatte grosse Lust, Einiges ihnen klarzuschneiden, aber es war leider garnichts zu machen. Doch nun genug davon; verzeih, dass ich meinem etwas bedrückten Herzen mal Luft gemacht habe. Ich fange an, an der Zukunft des Wingolfs zu verzweifeln, wenn nur die D.C.S.V. vernünftig wäre, vor ab ist da aber noch garnichts zu machen. Jedenfalls weg mit längerem Bundeskampf, ich glaube es ist Unrecht, noch mehr Zeit und Kraft daranzuwenden; draussen warten unser weit grössere Aufgaben. "Im engen Kreis verengert sich der Sinn"1]. Vielleicht zeigt Stratmann uns einen Weg, der uns aus dem Labyrinth herausführt und wenigstens einige Trümmer rettet. – Die Kneipe in Düsseldorf war für mich wenig erfreulich, am liebsten wäre ich wie Nell und Bredt, sofort nach Hause gefahren, doch blieb ich wegen einiger| Philister noch etwas da. Erfreulicher als der Philistertag waren die beiden Konferenzen, die ihm vorangingen. Auf der Missionskonferenz hielt lic. Warneck einen sehr interessanten Vortrag über die eingebornen Lehrer und Helfer unter den Batak, Missionsinspektor Spicker, der gerade von einer 1 ½ jährigen Reise durch ganz Afrika zurückgekehrt war, berichtete von der grossartigen Sammelarbeit der rheinischen Missionare nach dem Kriege, man dürfe hoffen, dass aus den Trümmern ein um so schönerer Neubau entstünde, es hätten weit mehr Heidenchristen, als man erwartet hatte, Treue gehalten. – Mittwoch Abend sass ich mit einigen bekannten Philistern noch recht gemütlich zusammen. Donnerstag morgen hielt auf der Predigerkonferenz Schlatter den Hauptvortrag über Recht und Geltung des Bekenntnisses, wo er die Interessen der Kirche wahrte und doch eine grossartige Weitherzigkeit an den Tag legte, weswegen er in der Discussion heftig angegriffen| wurde. Er demonstrierte absichtlich am Unservater. Bei der 2 stündigen erregten Discussion war der Ertrag sehr gering. Meine alte Vorliebe für Schlatter wurde mir bestärkt. Ich habe ihn auch kurz begrüsst, er freute sich, dass ich noch in Halle bliebe. Die ganze gestrige Anregung in Düsseldorf hat mir sehr wohl getan, man kann von solchen Tagen lange zehren. Als übrigens lic. Warneck von den eingebornen Helfern erzählte, sie könnte stundenlang mit Verstocktheit und Dummheit der Leute disputieren, ohne sich aufzuregen oder es leid zu werden sah ich ihm Geiste Dich auf der Wartburg. – Heute nachmittag gibt’s wieder eine sehr angenehme Unterhaltung des ruhigen Lebens: es kommen fünf Cousinen aus Barmen in meinem Alter zu Besuch, worauf ich mich sehr freue. Nächste Woche erscheinen dann Schreiberle und Johs Meyersieck. Bis dahin hoffe ich noch ein ganz klein wenig zu arbeiten, obwohl bei dem schönen Wetter die Versuchung oft gar zu gross ist.| Von Lorenz erhielt ich einen sehr netten Brief, worin er sich über alles sehr nett aussprach; wir wollen ihm im nächsten Sommer sehr entgegenkommen; ich bin überzeugt, es wird weit besser mit ihm gehen. Es tut mir leid, dass er nicht Lbb. Berechtigt ist, obwohl er selbst es jetzt so für besser hält.

Doch nun Schluss. Verzeih bitte das grässliche Geschmiere, hoffentlich kannst Du es lesen.

An Deine lb. Hausgenossen einen herzlichen Gruss

In Treuen Dein
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