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Bremervörde, 7. IX. 06.

Lieber Philosoph!

habe Dank für Deinen Brief1], der mich wieder an eine immer vorgehabte, aber nie zur Ausführung gekommene Pflicht erinnerte, der mich jetzt aber so aus meinen Studien aufweckte, daß ich Schlatter's Matthäus schleunigst zur Seite lege u Dich aufkläre. Du scheintest mir nämlich von einer falschen Voraussetzung auszugehen. Der erste Teil Deiner Vorstellung stimmt, der Garten u meine Geschwister nebst einer kleinen Cousine beschäftigen mich intensiv, der Garten,d indem ich ihm alles überflüssige Obst| entziehe, meine kleinen Geschwister u die Cousine, indem ich ihnen von meiner Weisheit in den Sprachen etwas abgebe. Wenn du aber glaubst, ich fragte jeden Arbeiter oder Handwerker, welchen Eindruck er von der Sixtinischen Madonna oder Mackensen's Ziege hat, so bist Du in einem schweren Irrtum. Also, Scherz beiseite, ich kann das Thema nicht bewältigen, es entsprichts nun mal meiner auf die Wirklichkeit gerichteten Natur auch sich so intensiv mit der Kunst, speziell der Malerei zu befassen. Und dann darüber Theorien aufzustellen, würde mir Überhebung scheinen. Aber der Schreck, den du gekriegt hast,| darf bald schwinden. Ein anderes Thema hat mich sehr beschäftigt, ich hoffe es zu einem Vortrage ausarbeiten zu können. Es handelt sich um die Frage: "welchen Pflicht hat der Staat der Volksschule gegenüber in Sachen der Religion?" So oder ähnlich denke ich die Sache zu formulieren. Literatur habe ich viel dafür, hoffentlich hat nur nicht schon ein anderer dies Thema! Das wäre übel. Diese Frage interessiert mich mehr, da sie gerade jetzt aktuell geworden ist durch die Entscheidung des Abgeordnetenhauses. Äußerungen verschiedener Parteien stehen mir zu Gebote. Schreibe mir doch bitte ob jemand sich dies Thema erwählt hat.| Etwas mehr als du Dir vorstellst, besinne ich mich doch aufd mein 4. Semester. Ich schaffe Windelband's Präludien, Schlatters Glaube, die kleinen Propheten, die Psalmen, u Matthäus. Außer mit Schlatters Glaube denke ich mit allem fertig zu werden. Meine Bibliothek hat sich auch etwas bereichert. Etwas treibe ich auch Kirchengeschichte, mir liegt das Reformationszeitalter am Herzen (!), wozu ich Hausratz's Luther zur Erholung lese. Ein prachtvolles Werk ist es, so leicht u fein geschrieben u doch merkt man die Forschung dahinter.

Ganz so schlecht wie ich mich zu Anfang geschildert habe, bin ich| doch nicht. Als mir nämlich die Erkenntnis meines Unvermögens aufging schrieb ich eine Postkarte an Dich nach Berlin, jedoch ohne weitere Adresse, da ich sie vergessen hatte. Außerdem fiel in die Zeit, es war wohl der 20.Sept. Aug, Dein Geburtstag, zu dem ich Dir zu gratulieren mir erlaubte; sogar ein griechischer Vers zierte die Karte σοὶ δὲ θεοὶ τόσα δοῖεν, ὅσα φρεσὶ σῇσι μενούνας , und ..... die Karte kam zurück. In meiner Verzweiflung fragte ich bei meinem Lbb in Halle an, ob er eine Liste der Ferienadressen als Ferienchargierter besitze; Nein, auch der nicht, aber Voget wußte sie u schrieb sie auch. Wieder wollte ich nun schreiben; aber kann| ein Sohn, der beinahe Knödelwirt geworden wäre, Briefe schreiben, wenn seine Eltern in 8 Tagen ihre silberne Hochzeit feiern? Muß er nicht sich auf sich selbst setzen und lange Gedichte verbrechen oder es wenigstens versuchen? Also ich kam nicht dazu, u so gratuliere ich Dir jetzt, es kommt spät, aber "letzter, bester".

Die Feiertage waren großartig, natürlich tat man nichts; 35 Personen waren wir bei Tisch. Das Wetter begünstigte uns sehr. Einige Aufnahmen von da kann ich dir in Halle zeigen.

Vorigen Mittwoch feierten wir nochmal im Kreis der Inspektion| meines Vaters. Von einigen Pastoren wurde ich auch schon angekeilt ich sollte für sie predigen, übers Jahr werde ich dem kaum entgehen können. An den Konferenzen nehme ich auch tätigen Anteil.

Das Studium von Windelbands Präludien macht mir sehr viel Spaß, sehr dankbar würde ich Dir sein, wenn du mir etwas angeben könntest, woraus ich etwas Fichte kennen lernen kann, für Medicus nämlich. Sehr dankbarf würde ich dir auch sein, wenn du dich aus deiner Höhe herabließest, um mit mir armen Stümper im nächsten Semester etwas| Philosophisches zu lesen. Schlatters "Glaube im NT" ist sehr schwer, ich komme aber durch. Wenn ich mit Matthäus fertig bin, denke ich mit Johannes, ebenfalls nach Schlatter, anzufangen.

Zum Lesen der deutschen Kulturgeschichte komme ich kaum, in der ersten Zeit etwas, der Stoff liegt mir auch etwas fern; dagegen habe ich die 4 Hefte der Kosmosbibliothek fast durchstudiert.

Gekneipt habe ich wenig, nur ¿¿¿ abends kegele ich mit den Honoratioren der Stadt, aber deren Interessenkreis liegt meist anderswo.

Jetzt kommt noch ein Geständnis, daß nämlich das vorige Se| mester mich erst etwas zereist hat, es hat mir mehr gebracht, als ich in Tübingen je gelernt hätte, jetzt weiß ich erst, wozu ich auf der Welt u im Wingolf bin. Und das danke ich Dir, fast Dir allein, habe herzlichen Dank.

Dir u Deinen Angehörigen sendet herzliche Grüße
Dein treuer G. v. Hanffstengel
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    • Hausrath, Adolf, Luthers Leben. Berlin: G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, 1904. 
    • Schlatter, Adolf, Der Glaube im Neuen Testament. Eine Untersuchung zur neutestamentlichen Theologie. Leiden 1885 
    • Windelband, Wilhelm, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914