Lieber Philosoph!
habe Dank für Deinen Brief1], der mich wieder
an eine immer vorgehabte, aber nie zur Ausführung gekommene Pflicht erinnerte, der
mich jetzt aber so aus meinen Studien aufweckte, daß ich Schlatter's
Matthäus schleunigst
zur Seite lege u Dich aufkläre. Du scheintest mir nämlich von einer falschen
Voraussetzung auszugehen. Der erste Teil Deiner Vorstellung stimmt, der Garten u
meine Geschwister nebst einer kleinen Cousine beschäftigen mich
intensiv, der Garten,d indem ich ihm alles überflüssige Obst|
entziehe, meine kleinen Geschwister u die Cousine, indem ich ihnen von
meiner Weisheit in den Sprachen etwas abgebe. Wenn du aber glaubst, ich fragte jeden
Arbeiter oder Handwerker, welchen Eindruck er von der Sixtinischen Madonna oder Mackensen's Ziege hat, so bist
Du in einem schweren Irrtum. Also, Scherz beiseite, ich kann das Thema nicht
bewältigen, es entsprichts nun mal meiner auf die Wirklichkeit
gerichteten Natur auch sich so intensiv mit der Kunst, speziell der Malerei zu
befassen. Und dann darüber Theorien aufzustellen, würde mir Überhebung scheinen. Aber
der Schreck, den du gekriegt hast,|
darf bald schwinden. Ein anderes Thema
hat mich sehr beschäftigt, ich hoffe es zu einem Vortrage ausarbeiten zu können. Es
handelt sich um die Frage: "welchen Pflicht hat der Staat der
Volksschule gegenüber in Sachen der Religion?" So oder ähnlich denke ich die Sache
zu
formulieren. Literatur habe ich viel dafür, hoffentlich hat nur nicht schon ein
anderer dies Thema! Das wäre übel. Diese Frage interessiert mich mehr, da sie gerade
jetzt aktuell geworden ist durch die Entscheidung des Abgeordnetenhauses. Äußerungen
verschiedener Parteien stehen mir zu Gebote. Schreibe mir doch bitte ob jemand sich
dies Thema erwählt hat.|
Etwas mehr als du Dir vorstellst, besinne ich mich
doch aufd mein 4. Semester. Ich schaffe Windelband's
Präludien, Schlatters
Glaube, die kleinen Propheten, die
Psalmen, u Matthäus. Außer mit Schlatters
Glaube denke ich mit allem fertig
zu werden. Meine Bibliothek hat sich auch etwas bereichert. Etwas treibe ich auch
Kirchengeschichte, mir liegt das Reformationszeitalter am Herzen (!), wozu ich Hausratz's Luther
zur Erholung lese. Ein prachtvolles Werk ist es, so leicht u fein geschrieben u doch
merkt man die Forschung dahinter.
Ganz so schlecht wie ich mich zu Anfang geschildert habe, bin ich|
doch
nicht. Als mir nämlich die Erkenntnis meines Unvermögens aufging schrieb ich eine
Postkarte an Dich nach Berlin, jedoch ohne weitere Adresse, da ich sie
vergessen hatte. Außerdem fiel in die Zeit, es war wohl der 20.Sept. Aug, Dein Geburtstag, zu dem ich Dir zu gratulieren mir erlaubte;
sogar ein griechischer Vers zierte die Karte σοὶ δὲ θεοὶ τόσα δοῖεν, ὅσα φρεσὶ σῇσι μενούνας , und ..... die Karte kam zurück. In meiner Verzweiflung fragte ich bei
meinem Lbb in Halle an, ob er eine
Liste der Ferienadressen als Ferienchargierter besitze; Nein, auch der nicht, aber
Voget wußte sie u schrieb
sie auch. Wieder wollte ich nun schreiben; aber kann|
ein Sohn, der beinahe
Knödelwirt geworden wäre, Briefe schreiben, wenn seine Eltern
in 8 Tagen ihre silberne Hochzeit feiern? Muß er nicht sich auf sich selbst setzen
und lange Gedichte verbrechen oder es wenigstens versuchen? Also ich kam nicht dazu,
u so gratuliere ich Dir jetzt, es kommt spät, aber "letzter, bester".
Die Feiertage waren großartig, natürlich tat man nichts; 35 Personen waren wir bei Tisch. Das Wetter begünstigte uns sehr. Einige Aufnahmen von da kann ich dir in Halle zeigen.
Vorigen Mittwoch feierten wir nochmal im Kreis der Inspektion| meines Vaters. Von einigen Pastoren wurde ich auch schon angekeilt ich sollte für sie predigen, übers Jahr werde ich dem kaum entgehen können. An den Konferenzen nehme ich auch tätigen Anteil.
Das Studium von Windelbands
Präludien macht mir sehr viel Spaß,
sehr dankbar würde ich Dir sein, wenn du mir etwas angeben könntest, woraus ich etwas
Fichte kennen lernen kann,
für Medicus nämlich. Sehr
dankbarf würde ich dir auch sein, wenn du dich aus deiner Höhe
herabließest, um mit mir armen Stümper im nächsten Semester etwas|
Philosophisches zu lesen. Schlatters
"Glaube im NT" ist sehr schwer, ich
komme aber durch. Wenn ich mit Matthäus fertig bin, denke ich mit Johannes, ebenfalls
nach Schlatter, anzufangen.
Zum Lesen der deutschen Kulturgeschichte komme ich kaum, in der ersten Zeit etwas, der Stoff liegt mir auch etwas fern; dagegen habe ich die 4 Hefte der Kosmosbibliothek fast durchstudiert.
Gekneipt habe ich wenig, nur ¿¿¿ abends kegele ich mit den Honoratioren der Stadt, aber deren Interessenkreis liegt meist anderswo.
Jetzt kommt noch ein Geständnis, daß nämlich das vorige Se| mester mich erst etwas zereist hat, es hat mir mehr gebracht, als ich in Tübingen je gelernt hätte, jetzt weiß ich erst, wozu ich auf der Welt u im Wingolf bin. Und das danke ich Dir, fast Dir allein, habe herzlichen Dank.
Dir u Deinen Angehörigen sendet herzliche Grüße