Brief von Johannes Tillich und Toni Winkler an Paul Tillich vom 16. Juni 1906

Zum TEI/XML DokumentAls PDF herunterladen

Der editierte Text

|
a, 16. 6. 1906
Mein lieber b!

Deinen Brief1 vom 15. haben wir erhalten und daraus ersehen, daß Du hübsche Reisetage gehabt hast und daß es Dir körperlich gut geht. Es zieht sich aber durch Deinen Brief ein Ton von Mißstimmung und Müdigkeit, wenn ich mich nicht täusche. Und namentlich sind es Deine Bemerkungen über Deine jetzige Stellung zu den theologischen Fragen, die mich stutzig machen und etwas beunruhigen. Und darum drängt es mich, Dir in dieser Hinsicht einiges zur Ermutigung und zur weiteren Wegweisung zu schreiben.

Deine bisherige wissenschaftliche Entwicklung hat nun einen etwas einseitigen Verlauf genommen. Ihr Ausgangspunkt war ein philosophisch-theoretisches Interesse, das fort und fort gewachsen ist. Ich bin dabei beteiligt, weil ich selber stark für systematische Probleme interessiert, viel mit Dir über diese Dinge gesprochen und Deinen Trieb gefördert habe. Vielleicht zu sehr. Dazu kam die theoretische Behandlung der Wingolfs-Fragen und Deine etwas früh begonnene Beschäftigung mit Dogmatik und Apologetik. Das alles kann dazu führen, das Christentum nur verstandesmäßig aufzufassen und begreifen zu wollen. Du kannst in Gefahr kommen, ein Intellektualist zu werden. Und das ist eine wirkliche Gefahr.| Groß aber ist der Gewinn, wenn sie rechtzeitig erkannt und überwunden wird, und diese Zeit ist wohl jetzt für Dich da. So gib einmal vorläufig den Versuch auf, die christliche Wahrheit intellektuell, spekulativ-theoretisch Dir zu beweisen und systematisch zu konstruieren. Es gibt noch andere theologische Wege, die nicht minder wissenschaftlich sind, namentlich die Exegese. Vergiß aber vor allem nicht, daß Christentum Gewissenssache ist, und darum lies einmal die Bibel, auch als sein {¿¿¿} mit suchendem Herzen und mit ernstem Gebet. Halte fest an der Verheißung "den Demütigen und den Aufrichtigen läßt es Gott wohlgelingen", und gehe den praktischen Weg nach Johannes 7: 17. Denke an Deinen Konfirmationsspruch und handle nach Johannes 14: 21. Vergleiche Matthäus 11: 25 bis 30. Du wirst dann mehr verstehen lernen, was christliche Erfahrung ist. Die Gnosis kommt aus der Pistis, nicht umgekehrt. Gott und seine Offenbarung läßt sich nicht verstandesmäßig erfassen, das liegt in der Natur der Sache, ja im Wesen und Willen Gottes, dem wir uns erst beugen müssen, ehe er uns volles Licht gibt. Und er allein ist das Licht, nicht die menschliche Weisheit, die nur unter seinem Licht gedeihen kann. Gott offenbare sich Dir, mein lieber Sohn, immer reichlicher, und erleuchte Dich durch den neuen Geist von oben, der mehr ist als der Geist der Logik, heiliger Geist. Das erfleht für Dich mit vielen Gebeten Dein Vater, der auch die Kämpfe geistigen Ringens kennengelernt hat, aber durch Gottes Hilfe und Gnade sagen kann: "Ich weiß, an wen ich glaube".

Nun noch einzelnes, das ich diktieren kann in bezug auf die Schlußsätze Deines Briefes. Obwohl sie nicht ganz klar sind,| möchte ich Dich doch bitten zu prüfen, ob die bezeichneten Schwierigkeiten nicht mit der besonderen philosophischen Grundanschauung zusammenhängen, die Du bisher gepflegt und etwas stark festgehalten hast, auch unter dem Einfluß der Bücher, die Du gelesen, und einiger Philosophen, die Du gehört hast. Die Sache steht doch so: wenn ein philosophisches System sich nicht als brauchbar erweist, um die Grundwahrheiten des Christentums zu lösen, so sind die letzten festzuhalten und das Erste ist aufzugeben, mit anderen Worten, man korrigiert sein System unter Gottes Leitung. Damit tut man der Wissenschaftlichkeit keinen Eintrag, im Gegenteil, man kommt zur rechten Wissenschaft. Du schreibst, die objektive Wahrheit könne sich nicht geschichtlich vermitteln; das ist c, d, die beide überhaupt keinen lebendigen Begriff der Geschichte haben können. Freilich, nicht die ewigen Ideen haben eine Geschichte, aber ihre Offenbarung und ihre Erkenntnis, "daß Gott die Liebe ist", ist ewige objektive Wahrheit, (nicht nur Werturteil, sondern Seinsurteil); aber diese Wahrheit ist erst durch Christi Person und Werk offenbart und bezeugt. Nur muß sie mit allem, was damit zusammenhängt, theologisch durchdacht und begründet werden. Dies macht die Geschichte der Theologie aus, die eine Geschichte des Kampfes ist, weil auch in ihr Gottes Geist und Weltgeist einander gegenüber stehen, auch weil selbst die christlich-gläubige Erkenntnis ihrem Objekt nie adequat werden kann, das übrigens die rationalistischen Theologen von den Diagnostikern an bis zu den modernen Kirchen und Christentum nicht haben totschlagen können, ist ein herrliches Zeugnis der christlichen Wahrheit. Eben solch Zeugnis liegt darin, daß die Wissenschaft| immer wieder sich mit dem Christentum auseinandersetzen muß und die Theologie nie aufhört, sie, die des Schweisses der Edelsten wert ist. Ferner, das Verhältnis von Wahrheit und Wertschätzung aufgrund von Erfahrungen ist Dir nicht klar, aber was wir an geistigen Erfahrungen haben und machen, wird weder nur im Gefühl noch nur vom Intellekt aufgenommen, sondern vom ganzen Geist, von der gesamten Persönlichkeit, und unser Geist, wenigstens der erleuchtete Geist, hat das Vermögen, deutlich zu unterscheiden, was nur subjektive Wertdeutung hat und was allgemein gültige objektive Wahrheit ist. Alle Werturteile des Gewissens ruhen auf der unmittelbaren Gewißheit, daß objektive Wahrheit dahintersteht. Wir sind durch die e-f'sche Erkenntnistheorie viel zu sehr an das Wort "Werturteil" gewöhnt. Neuerdings hat man nachgewiesen, daß die meisten aller unserer Werturteile in Seins-Urteile übergreifen. Doch genug von diesen theoretischen Erörterungen, die ich nur hinzufüge, weil sie Dinge betreffen, die – wie es mir scheint – Dich geistig ermüdet haben und zum Anstoß werden können. Es wäre mir darum sehr lieb, wenn Du mir recht bald Genaueres über Dein gegenwärtiges Denken und Fühlen schreiben wolltest, wobei es ja auf Einzelheiten nicht ankommt. – Berliner Stiftungsfest findet am 3. und 4. Juli statt. Wir freuen uns natürlich sehr, wenn Du dazu herkommen wolltest. Du kannst ja auch ebensogut, wenn Du willst, eher kommen, vielleicht über einen Sonntag. Gott behüte Dich an Leib und Seele.

Es küßt Dich
Dein treuer g.

..... und nun, mein lieber h, möchte ich Dir noch allerlei sagen, vor allen Dingen, daß Du recht sehr bald an i schreiben mußt und ja recht ausführlich, denn ich glaube, Dein Brief hat ihn mehr beunruhigt als nötig war. Es ist ja so natürlich, daß man im geschriebenen Wort noch so unendlich viel zwischen den Zeilen liest, manchmal Dinge, die absolut nicht drin stehen. Ich glaube, aus Deinem Brief nur eine augenblickliche Stimmung herauszulesen. j meint, es seien ernstliche Fragen, die Dich beunruhigten. Aber weil Du weißt, wie k ist, so beruhige ihn bald, wenn es so ist, wie ich denke, aber nur dann, nur ja nicht auf Kosten der Wahrheit, denn das wäre wiederum [sic!] ein grosses Unrecht, das Du ihm antätest, denn gerade Dein unbedingtes Vertrauen freut ihn, und Du kannst ihm ruhig alles schreiben. Am besten ist, Du kommst Anfang Juli her ein paar Tage und Ihr philosophiert wieder, (aber nicht nach Mitternacht!!). Aber bald einen ausführlichen Brief, alles Ungewisse beunruhigt l. Am Montag schicke ich Dir ein kleines Futterpäckchen-Kistchen. m geht es gut, er bastelt viel abends an seinem Rad, das er mit nach n nehmen will und läßt es wieder reparieren, neuen Gummi etc. o feiert heute ihren Geburtstag, 8 sind es an der Zahl. Morgen kommen rqp zum Kaffee her und Abendbrot.

Nun behüte Dich Gott, es grüßt Dich
Deine getreue s

Fußnoten, Anmerkungen

1Nicht überliefert.

Register

aBerlin
bTillich, Paul
cFichte, Johann Gottlieb
dKant, Immanuel
eKant, Immanuel
fRitschl, Albrecht
gTillich, Johannes Oskar
hTillich, Paul
iTillich, Johannes Oskar
jTillich, Johannes Oskar
kTillich, Johannes Oskar
lTillich, Johannes Oskar
mTillich, Johannes Oskar
nMisdroy
oSeeberger, Elisabeth
pDürselen, Paul Rudolf
qDürselen, Johanna Amalia Eugenia
rDürselen, Gustav
sWinkler, Toni

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 A
Typ

Brief. Als maschinenschriftliche Abschrift überliefert.

Postweg
Berlin - unbekannt
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Johannes Tillich und Toni Winkler an Paul Tillich vom 17. November 1906

Entitäten

Personen

Orte

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Johannes Tillich und Toni Winkler an Paul Tillich vom 16. Juni 1906, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00107.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

{{Internetquelle |url=https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00107.html |titel=Brief von Johannes Tillich und Toni Winkler an Paul Tillich vom 16. Juni 1906 |werk=Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition. |hrsg=Christian Danz, Friedrich Wilhelm Graf |sprache=de | datum=16.06.1906 |abruf=???? }}
L00107.pdf