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Stuttgart, 29. März 1906

Liebes Paulchen!

Als ich heute morgen so recht behaglich im Bett lag u. für den Tag gute Vorsätze sammelte, nahm ich mir noch vor, Dich von meiner Nochlebigkeit zu überzeugen. U. als ich aufstand war schon ein Brief von Dir1] da. Nun fühle ich mich doppelt getreten, Dich meines Geistes einen Hauch verspüren zu lassen, damit wäre dann der Zweckgedanke bejaht.

Also herzlichen Dank für Deinen lb. Brief. Es freut mich, dass Du Dich wohl befindest. Um Deine Menge Arbeit beneide ich Dich. Besonders, daß Du schon Kählers Dogmatik etwas losbekommst. Daß du trotzdem oder vielmehr "indem" noch feste philosophierst| kann ich mir lebhaft denken, u. freue mich über die Art Deines Philosophierens. Denn da der Mensch aus denken u. fühlen u. wollen zusammengesetzt ist, so freue ich mich über jede Überwindung einseitigen Intellektualismus. Im Übrigen ist mir schwer über diese Dinge zu schreiben, weil ich noch keinen so philosophisch verdorbenen Stiel habe wie Du. Wenn Lütgert Geist als Einheit von Denken u. Wollen bestimmt2], so hat er unter dem Begriff Wollen sicher Gefühl hereinbezogen, dennzum Wollen beruht doch öfter auf dem Gefühl als auf Erkenntnis. Was wir Gewissen nennen, ist doch nur das Gefühl für Gut u. Böse, im Gefühl, das allerdings nur auf einem geistigen Verhältnis zu Gott beruhen kann, wenn es absolut sein soll. Jetzt erst wird mir auch klar, warum Dir das Problem im Bibelkränzchen solche Schwierigkeiten machte, nämlich aus| Deinem Intellektualismus heraus, oder um es anders auszudrücken, weil Du Dir eineaktive Sittlichkeit in jedem Augenblick in jeder Handlung nicht denken konntest, ohne fortwährende intellektuelle Erwägungen. Giebt man dem viel ge- u. verschmähten Gefühl endlich sein Recht, so fällt diese Schwierigkeit.

Auf Kähler freue ich mich auch sehr. So schwer er zu verstehen ist, so hat doch seine Sache ganz anderen Reiz als Lütgerts. Ich lese zur Zeit mit Phil. Schrügle "unsern Streit um die Bibel" u. freue mich sehr daran. Es ist so müßig u. doch so bestimmt. Er giebt z. B. der religionsgeschichtlichen Methode alle wissenschaftliche Freiheit u. stellt fest, dass alle religionsgeschichtl. Meth. "das was für unser Heil notwendig ist" nicht angreift. Ich halte das für einen viel vornehmeren Standpunkt alsunser das viele Geschrei| nach Beschränkung der Lehrfreiheit. Im Übrigen war ich in den ersten 8 Tg. im Wandern. Ich freute mich so am Schwabenland, daß ich nach Holzgerlingen wanderte zu meiner Schwester, dann nach Tübingen, wo ich einen Tag blieb u. mit Nell sehr nett zusammen war. Dann gieng ich nachTübingen Kirchheim zu meinem Lbb. u. brachte einige schöne Tage mit ihm zusammen zu. Jetzt bin ich wieder daheim u. schlemme bes. Kunstgeschichte, Missionsprobleme, höre u. staune "Windelband", aber wirklich angefangen zu arbeiten habe ich nicht. Ich brings immer noch nicht fertig, mich philologischer Exegese hinzugeben. Schmuhls ChristologieWilhelm Lütgert: Die johanneische Christologie (1899) lese ich mit Wonne. In der letzten Woche habe ich mich angeregt durch einen Vortrag eines Häcklschülers, der mit unglaublicher Naivität Gott u. Unsterblichkeit wegbewies, u. von Philosophie unbewußt, durch keine Sachkenntnis in Metaphysik getrübte Naturwissenschaft u. monistische Dogmatik unter einander mengte, noch eingehend mit Glauben u. ¿¿¿ in Beziehung auf Darwinismus u. Wunder beschäftigt. Du siehst meine Interessen sind immer noch rein praktisch.

Im Übrigen grüße ich Dich herzlich u. freue mich auf ein nettes Semester.
Dein Alfred.
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    • Martin Kähler: Unser Streit um die Bibel: Vorläufiges zur Verständigung und Beruhigung für "Bibelverehrer", von einem der ihrigen. Leipzig 1895. 
    • Lütgert, Wilhelm, Die Kennzeichen des Geistes Gottes, in: Ders., Gottes Sohn und Gottes Geist. Vorträge zur Christologie und zur Lehre vom Geiste Gottes, Leipzig: A. Deichert, 1905, S. 71–86. 
    • Lütgert, Wilhelm, Die johanneische Christologie, in: Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 3. Jg. (1899), 1. Heft, Gütersloh: C. Bertelsmann.