Der editierte Text

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Lieber a!

Die herzlichsten Glücks- und Segenswünsche sende ich Dir zu Deinem Geburtstage. Möge der liebe Gott Dich gerade in diesem Jahre besonders segnen, damit Du mit um so mehr Freude die goldene Hochzeit feiern kannst. Vor allem gebe er Dir Gesundheit und Frische für Deine Arbeit! Hoffentlich geht es Dir recht gut. Wie gern würde ich mit Euch feiern! Doch in 8 Tagen komme ich ja schon. – Mir geht es sehr gut. Zwar war das Semester und besonders das letzte Quartal sehr sch anstrengend.1 Doch habe ich es immer gut ausgehalten, ohne etwas von Krankheit zu spüren. Doch freue ich mich schon auf die Ruhe in den Ferien. Von dem Chargiertenkonvent wird Dir i schon erzählt haben; es war ein großartiges Trauerspiel und äußerst aufregend.| Leider konnte j nicht mehr von k sehn. Doch habe ich mich sehr gefreut, ihm wenigstens meine Bude zeigen zu können. Hoffentlich hat es ihn nicht zu sehr angestrengt. Es war außerordentlich gut, daß er gekommen war. Seine letzte Resolution (offiziell Resolution Tillich genannt)2 war die letzte Rettung, an die wir Besiegten uns anklammern konnten.3

Unser Bundespessimismus ist durch den neuen Versuch, die alte biblische Grundlage dem Wingolf zu erhalten, wieder etwas gemindert. Wenn er nur glücklich gelingen würde!! – Die Kollegs, die durch all die Aufregung etwas in den Hintergrund getreten sind, schließen am 6ten. Ich habe viel davon gehabt und muß in den Ferien die Fülle des Stoffes, besonders von ac Dogmatik4, allmählich verarbeiten. Die Vorlesungen vom nächsten Semester sind glänzend5; ich freue mich jetzt schon drauf, besonders auf| ag. Auch die Verbindung wird im nächsten Semester ebenso gut bleiben, wie jetzt; es ist bei weitem die beste die ich im Bunde kennengelernt habe. Sicher kommt das zum großen Teil von dem engen Konnex, in dem wir zu den Professoren, vor allem ah stehen. Das nächste Semester, steht also unter günstigen Auspizien. Dennoch freue ich mich sehr auf die Ferien, besonders auf Euch alle.

Herzliche Grüße an ai und aj.

Dein treuer Enkel
ak.

Fußnoten, Anmerkungen

1Im Winter-Semester 1905/06 in Halle besuchte Paul Tillich folgende Lehrveranstaltungen: Kirchengeschichte II bei b, Neutestamentliche Theologie bei c, Psalmen bei d, Dogmatik II (Christologie), Matthäus und Systematisches Seminar bei e und Philosophische Übungen (f bei g. Vgl. h.
2 lnahm als m Philister am n Chargiertenkonvent vom 22. und 23. Februar 1906 teil, als welcher er auch Rederecht hatte. Dieser Konvent war außerordentlich einberufen worden, um grundlegende Übereinkunft der Aktivitas im sog. Prinzipienstreit zu erzielen. Im Prinzipienstreit ging es um das nähere Verständnis des Christentums, das dem Wingolfsbund als religiöser (aber nicht konfessioneller) Verbindung zu Grunde lag und in dem Prinzip jeder Mitgliedsverbindung zum Ausdruck zu kommen hatte. Der Bund nahm sowohl Katholiken wie Protestanten, religiös Liberale wie Konservative auf. Themen des Streits waren die christologische Ausdeutung des Christentumsbezugs, Verbindlichkeit des Prinzips für die einzelnen Verbindungsmitglieder, verbindliche Kriterien für den Verbleib einzelner Mitgliedsverbindungen im Bund sowie die Verträglichkeit religiöser Lebensführung mit den Traditionen des deutschen Studententums, zu denen sich der Wingolf ebenfalls bekannte.

Sich gegen einen Antrag des o Wingolfs wendend, den Prinzipienstreit v.a. durch eine Änderung der Bundes-Statuen beizulegen, insistierte p gegen eine solche „formalistische Lösung“ auf einer „innerliche[n] Auseinandersetzung“. (Siehe: Heinrich Birmele: q zu Halle a.S. am 22. und 23. Februar 1906, in: ebd., S. 2-8, 2.) In der kontrovers diskutierten Frage, ob der christliche Charakter bloß als Bestandteil des Verbindungslebens und damit als Angelegenheit der einzelnen Verbindungsmitglieder oder als die Gemeinschaft selbst begründend anzusehen sei, vertrat r die Position, dass „die christliche Gemeinschaft auch Ziel der Verbindung sein“ müsse, „nicht nur zufälliges Produkt dessen, daß entschiedene einzelne da sind“.s befürchtet eine Relativierung des Prinzips: „Durch Verneinung dieses Satzes ist der geschichtliche Zusammenhang aufgehoben; denn an jedem Semesteranfang müßten die einzelnen ihre Prinzipauffassung feststellen. Nicht die jedesmalige Realisierung durch die einzelnen ist die alleinige Verkörperung des Prinzips, dieses selbst und seine geschichtliche Wirkung bedeuten viel mehr.“ (t, S. 3.) Auch zur Frage der christologischen Präzisierung des Christentumsverständnisses im Prinzip äußerte sich u: „Phil. Tillich stellt zur Klärung die Frage, ob die sogenannten liberalen Verbindungen Christus im Prinzip nur auf Seiten der Menschheit oder auch auf Seiten der Gottheit stellten. Wer das letztere leugnet, tastet unsere Grundlage an.“ (v, S. 6.)

Der Konvent gab dem w Antrag zur Änderung der Bundes-Statuten teilweise statt und beschloss vor dem Hintergrund des tiefen Dissenses einige „Lockerungen“ hinsichtlich der Aufnahme neuer Verbindungen in den Bund und die Aufhebung des Aktivitätszwangs, der gemäß § 14 und 15 der Bundes-Statuten vorsah, dass ein Mitglied einer Wingolfsverbindung, wenn es eine andere Universität bezog, an dem Leben der Wingolfsverbindung im neuen Ort - soweit vorhanden - teilnehmen musste. Nachdem x bereits vor dem Beschluss die „unverbindliche Stimmungsfrage“ gestellt hatte, ob „die anwesenden Vertreter innerlich überzeugt sind, daß hinsichtlich der religiösen Grundlage diejenige Gemeinschaft noch vorhanden ist, welche einen Fortbestand des Bundes in der bisherigen Verfassung ermöglicht“ (y, S. 6.), und diese von sechs Verbindungen verneint wurde; schlug er zum Ende des Konvents eine Resolution vor, die in folgender Fassung angenommen wurde: „Die im Bunde vereinigten Verbindungen sprechen die Hoffnung aus, daß der gegenwärtig festgestellte Zwiespalt in der Prinzipienauffassung und die Lockerung der Bundesverfassung, soweit sie durch ihn erfordert ist, nur ein vorübergehender Zustand ist.“ (Siehe: Heinrich Birmele: z, in: Wingolfs-Blätter 35 (1905/06), Heft 12b, S. 8.) Diese Resolution sollte den neuen Bundes-Statuen als Anhang hinzugefügt werden.

Ob alle Änderungen der Bundes-Statuten, die auf dem Chargiertenkonvent angenommen worden waren, im Anschluss auch vom Bund ratifiziert worden sind, bleibt unklar. Diesbezüglich heißt es in dem ersten auf den Chargiertenkonvent folgenden Bundesprotokoll lediglich: „Der Beschluß des Ch.-C., den Aktivitätszwang aufzuheben, ist vom Bunde nicht ratifiziert worden.“ (Karl Weber: aa, in: Wingolfs-Blätter 35 (1905/06), Heft 20, S. 193.)
3Vgl.ab: „Resolution Tillich. Die im Bunde vereinigten Verbindungen sprechen die Hoffnung aus, daß der gegenwärtig festgestellte Zwiespalt in der Prinzipauffassung und die Lockerung der Bundesverfassung, soweit sie durch ihn erfordert wurde, nur ein vorübergehender Zustand ist.“
4Paul Tillich bezieht sich auf die Christologievorlesung, die er bei Wilhelm Lütgert besucht hat.
5Im Sommer-Semester 1906 besuchte Paul Tillich in Halle folgende Lehrveranstaltungen: Dogmatik I (Apologetik) und Geschichte der Dogmatik im 19. Jahrhundert bei Prof. D. ad, Ethik, Hebräerbrief und Systematisches Seminar bei Prof. D. ae. Vgl. af.

Register

aTillich, Oskar
bLoofs, Friedrich
cHaupt, Erich
dKautzsch, Emil
eLütgert, Wilhelm
fFichte, Johann Gottlieb
gMedicus, Fritz
hNeugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschicht..., 2007
iTillich, Johannes Oskar
jTillich, Johannes Oskar
kHalle (Saale)
lTillich, Johannes Oskar
mBerlin
nHalle (Saale)
oGöttingen
pTillich, Johannes Oskar
rTillich, Johannes Oskar
sTillich, Johannes Oskar
uTillich, Johannes Oskar
wGöttingen
xTillich, Johannes Oskar
abAnonym, Ratifizierungen der Beschlüsse des Chargierten-Konventes, 24. März
acLütgert, Wilhelm
adKähler, Martin
aeLütgert, Wilhelm
afNeugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschicht..., 2007
agKähler, Martin
ahLütgert, Wilhelm
aiTillich, Marie
ajTillich, Margarete
akTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 [A]
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
ohne Ort - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Oskar Tillich an Paul Tillich vom 22. März 1902

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Oskar Tillich vom März 1906, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00100.html, Zugriff am ????.

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L00100.pdf