Der editierte Text

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29. März 1906
Mein lieber a!!

Ehe sich meine Briefschuld vergrößert oder die baldige Aussicht auf ein Wiedersehen nicht mehr solches Faulenzen (Briefschreiben) zuläßt – da natürlich, als ob es Berg ab ginge in den Ferien die Steine (alias Probleme,) die man wälzen wollte, sich alle dem Ende zugerollt sind und hier eine hohe Mauer |:bildet:| den armen Menschen mit guten Vorsätzen schrecken u. erdrücken – also ehe ... das geschieht, einen herzlichen Gruß zuvor! χαρις και αληθεiα! Du mußt ja nach Anleitung von b beinahe dabei sein. Finde nur nicht die Wahrheit, denn was sollten wir sonst mit unsrer Zeit anfangen, die mit dem Suchen sich so schön| füllt! – Doch ich will nicht anfangen Dummheiten zu reden. Nach einem derartig stilistisch, orthographisch u. sonst glänzendem Opus Deinerseits1 – ist mir mein Gedankenschwund noch deutlicher als sonst geworden und ich muß mich sehr bemühen alle meine Gedanken zusammenzunehmen, um auch nur ein halbes Feigenblatt für die Blöße meiner Geistlosigkeit herzustellen. Alle meine Gedanken? Kannst du's zählen? Nur bis 2! 1) Essen pp. 2) Examen. D. h. letzteres ist kein eigentlicher – geht nur sub voce! – ist eigentlich nur eine von den "Dunkeln Vorstellungen" ... Denen die perspicuitas mangelt ... ein Grenzbegriff, wo alles Denken in unendliche Reihe von Seufzern sich auflöst und eine akute Gehirnlähmung sofort den ganzen Menschen erschüttert....| Wie preise ich Dich glücklich, daß du schon im IV Semester die mera experientia hast – u. dazu noch c!! Denn letzteres ist das wichtigste. Die erste hätte ich auch schon begrifflich im II Semester; das ich aber damals gerade realistischer Thomist war, so begnügte ich mich, sowohl mit der Realität meiner Einsicht, als eben weil ich dazu dem Verstand über den Willen den Primat gewährte u. hoffte – es würde von selbst schon losgehen....

Dies sind also meine beiden eigentlich 1 1/2 Gedanken! Damit kann ich aber unmöglich beginnen, sondern ich verkrieche mich hinter den Denkfalten deines Briefes u. sehe dich gar gelehrt daraus an... staune tatsächlich über deinen Fleiß. Das Kollegheft von d muß ja mit all den Beigaben unendlich anschwillen! – Bitte tröste| mich u. schreibe, daß es nicht so viel §§ sind, die Du schon behandelt. Dein Psalmodieren oder Weissagen zusammen mit e (f u. g) muß ja nett sein. Laßt es doch drucken u. setzt dann den obigen Firmennamen drunter. Mensch a propos h sollte mal i in die Hände kommen! Der fluchte neulich als ich es ihm anonym!! erzählte.... "Daß ich immer dasselbe sage verdrießt mich nicht" pp.!... Aber das lange Aufsitzen! Ich bin ja leider keine offizielle Respecktsperson für Dich, aber mein lieber Junge... gut ist das nicht! Schlaf lieber. Ich tu es in einem fort. Glaube beinah, ich bin zuckerkrank, dabei tut man's nämlich auch.

Im übrigen aber freue ich mich herzlich, daß allem Anschein nach alles gut bei Dir in Ordnung ist. Das ist schon sehr viel. Ich bin seit vorgestern in Unordnung. Meine ganze Versöhnungslehre hat sich| verwickelt. Ich wollte eine Predigt machen über Hebraeer: 9 11-15 u. {¿¿¿} ... Donnerstag-Freitag und es wurde absolut nichts. Was soll das später werden. Ich bin ziemlich geknickt – es ist ja immer gut in allen Stücken gedemütigt sein, aber ich bin es schon ziemlich. Na – ich warte in Ruhe ab u. denke es wird noch wieder zu korrigieren sein! – Vielleicht hängt es innerlich doch zusammen mit der Lektüre von j k, der mich, sowohl durch Windmühlenfechterei als aber auch durch geschickte Art u. ernste geistige Christlichkeit geradezu verblüffte.. Es ist eine wieder zu früh herausgelassene Taube... ich flattere über den theologischen Richtungen und krieche mich dann doch lieber in meine Arche – zurück!... Aber was ist das, wenn auch Erfahrung dabei ist u. auch schadhafte (kindliche)| Stellen ausgebessert sind – ein fester Fußboden ist es noch nicht und ehe man den hat, ist es eben sehr schwer. Es denkt u. es wächst zu sehr – aber wenn man noch nicht sagen kann ich denke oder bin gedacht – je nachdem – da ists noch nichts. Eine Einheit im Denken Tun Wollen muß zu Stande kommen u. Denken u. Glauben natürlich auch. – Doch stopp.. Nun kannst Du Dir vielleicht denken, daß in Situationen in denen man Ruhe u. Freiheit braucht – um noch zu lesen u. zu denken – der Gedanke an das bestimmte Ziel und der sich eindrängende ohne Wahrheitsfrage doch teilweise zu traktierende Stoff einem das Leben sauer macht. –

Im übrigen aber bin ich natürlich| fröhlich, sowie wirs uns zum Semester hin u. her gewünscht haben. Und ich hoffe auch noch einiges bis zum Ferienschluß schaffen zu können. Bisher war's noch nicht viel. Raum u. Zeit stören... Auch lockt Sonne und Wald – horribile dictu Schlittenfahren noch in voriger Woche! – – Erlaß aus {Eigenbericht} über allerhand ergötzliche Scenen daheim. Daß ich hier bin ist mir Ruhe u. Erholung. Ich denke wir beide kommen etwas weniger zappelig ins Semester. Ich muß mich {strecken} und fest dran halten, es ist Zeit.. der Bund – ein Wort noch ... Ich bin unter die ειρηνοποιοι gegangen. Bei der späteren Kirchenschlacht, da will ich wacker mitkämpfen aber nur lieber jetzt dazu die Zähne schärfen,| als Mäuse im Wingolf zu gebären. Dieses "lächerliche Mäuslein" wird ja vielleicht ganz leicht nun kommen, nach dem wir genug gewerkelt haben, aber .... .... erst jetzt habe ich gesehen, wie das ganze "Hermann" – {fauler} Junge steht. Und wenn Professoren noch so ...... sind, ... dann ist jeder Kampf aus. Ich werde jetzt aufs Übertölpeln gehn, d.h. einfache Pädagogik: obs kapiert wird oder nicht... nota bene – Wenn ich nötig bin. Sonst ist Wille da – der hat schon die Zügel ganz ordentlich – Der kl. l schrieb eine Karte. Wieviel hast du korrespondiert? Ich könnte noch Bände schreiben – aber was nützt's? Ich freue mich der Gemeinschaft mit Dir u. grüße Dich von Herzen

D. m

Grüßest Du die lb. Deinen. bes. Deinen l. n!! Deiner o kannst sagen: es sei lediglich Selbstironie auf dem Typ... ich sei durchaus harmlos pp. Natürlich freue ich mich


Fußnoten, Anmerkungen

1Gemeint ist ein nicht überlieferter Brief von Paul Tillich an Hermann Schafft.

Register

aTillich, Paul
bPortig, Gustav
cPortig, Gustav
dLütgert, Wilhelm
eKaumann, E.
fTillich, Paul
gKaumann, E.
hKaumann, E.
iLütgert, Wilhelm
jHerrmann, Wilhelm
kHerrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt, 1886
lKilger, Albert
mSchafft, Hermann
nTillich, Johannes Oskar
oFritz, Johanna

Überlieferung

Signatur
Deutschland, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, 008 G
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 5. April 1906

Entitäten

Personen

Literatur

Bibelstellen

Zitiervorschlag

Brief von Hermann Schafft an Paul Tillich vom 29. März 1906, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L00102.html, Zugriff am ????.

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