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Berlin d. 16./11.05

Mein lieber Sohn,

Endlich komme ich dazu einen Brief an Dich zwar nicht selbst zu schreiben aber doch zu diktieren. Es ist schön, daß Du so ausführlich berichtet hast und die Nachrichten fortgesetzt gut lauten. Auch freue ich mich sehr über Deinen Studieneifer, habe aber dabei doch die Besorgnis, daß Du Dich zu sehr anstrengst.1] 26 Stunden Kolleg ist zu viel für Dich; da mußt Du um Deiner Gesundheit willen häufig schwänzen, z. B. Kirchengeschichte oder Psalmen, und solch eine Stunde zum spazieren gehen benutzen. Es ist ja Deine Art leicht in einer Sache zu viel zu tun; deshalb lege ich Dir die Pflicht der Schonung bes. aufs Herz, auch wenn Du die | Notwendigkeit nicht ganz einsehen solltest. Dazu noch ein anderes: die Ernährungsfrage. Du darfst nicht erst warten, bis eine Futterkiste von hier kommt, um Dich ordentlich und solide satt zu essen. Du mußt Dir selbst auch gute Sachen kaufen: Wurst Schinken, Eier, kaufe immer vom besten, denn das ist auch das billigste, und jedenfalls geize und spare nicht. Schreib uns im nächsten Brief, wie Du es in diesen Dingen hältst.- Ueber Deine Beziehungen zu Lüthgert freue ich mich sehr. Ueber die Frage betreffend Willensfreiheit, die Du mir gestellt hast, antworte ich: allerdings hat die sittliche Freiheit dann ihre Höhe und Reife erreicht, wenn | Pflicht und Neigung zusammenfällt; aber zu dieser Stufe geht es nur durch Kämpfen und Ringen, wobei Willensentscheidungen immer wieder nötig werden. Dies hat Lüthgert auch gewiß nicht leugnen wollen.

Das Thema Deiner Seminararbeit2] ist uns ziemlich unklar, Du kannst einmal näheres darüber schreiben, wenn Du dazu Zeit hast; sonst lassen wir bis Weihnachten. Ein Besuch meinerseits dort scheint vorläufig ausgeschlossen. Ich hatte viel zu tun mit dem Diktieren meiner Predigt und meines Referats für die Drucklegung. Wir sind eben erst damit fertig geworden. Auch die Gruppe der "Linken" läßt die Verhandlungen als Broschüre erscheinen, und hat mir zu diesem Zweck das Stenogramm meiner Rede zur Durchsicht zugeschickt. | So geht die Sache in große Kreise, hoffentlich zum Segen. Sobald die Verhandlungen erschienen sind schicke ich Dir ein Exemplar.

Mit Prof. Strack u. Lic. Frankh wird das Broschüren-Unternehmen der "St.udenten V.erbindung" weiter vorbereitet. Die Vorträge finden vielleicht noch Febraur-März statt.- Du hast noch nicht geschrieben ob Du bei Vetter Schmidt u. bei Knak's warst. Versäume es ja nicht. Onkel Adolf läßt Dir für den Geburtstagsbrief herzlich danken, schreib auch einmal an Onkel Paul u. nach Köln; es wird dann auch ein Packetchen nicht ausbleiben.- Ich kann mit meinem Gesundheitszustand im ganzen zufrieden sein; auch die andern befinden sich wohl. Nun behüt Dich Gott, mein lieber Sohn. Bußtag oder Totenfest gehen wir zum Abendmahl.

Es küßt Dich Dein tr. Vater.
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    • Tillich, Paul, Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium (1906), in: EN IX, 4–19. 
    • Neugebauer, Georg, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007.