Brief von Marlen Kandeler an Paul Tillich vom 19. Juli 1905

|
B. d. 19. VII. 05.

Mein lieber Freund!

Wie lieb von Dir, daß Du feurige Kohlen auf mein Haupt sammelst und mir trotz meines Schweigens wieder schreibst. Ich komme Dir einen Hochachtungsschluck (in Kaffee!) – Von Herzen freue ich mich, daß es Dir schon besser geht und ebenso herzlich wünsche ich Dir baldige, völlige Genesung!1] Wenn es Dich nicht zu sehr| anstrengt, würde ich mich sehr über einen ausführlichen Bericht von Dir u. Deinem jetzigem Leben freuen. Ich habe gehört, daß Du schon Andachten dem Druck übergeben hast. Wie gern würde ich mal eine davon haben. Du denkst vieleicht, ich werde sie mit meinem kleinen Verstandskasten doch nicht im ganzen Wert erfassen. Nun, ich meine, da Deine Schreiften religiösen Inhaltes sind, wird das Verständnis des Herzens da einsetzen wo| mein schwacher Geist zurückbleibt. - -

Mein Vater war 6 Wochen von Amts wegen in Leipzig um Vorträge über seine Schule mit anzuhören. Da fuhr Mutter mit den drei Bubis nach einem Gut Falkenwalde bei Ravenstein i. P. Jetzt ist die ganze Familie in Swinemünde. Ich muß natürlich, da ich im ersten Jahr keinen Urlaub bekomme, hierbleiben. Ich esse jetzt mittags immer| mit Tante R. Wiechel zusammen. Ich sagte ihr Deine Adr. Sie wird Dir auch schreiben.2] Die Kinder sind nun schon bald 5 Wochen fort. Der Abschied ist mir sehr schwer geworden. Es ist doch drollig, daß wir Männchen beide zum Liebling haben. -

Nun bekommst Du ja sehr bald Ferien nicht? Ich freue mich schon auf das Wiedersehen. Hoffentlich hat Deine Würde als Tübinger Student Dich so gebessert, daß Du mich nicht wie sonst braun u. blau zwickst, sondern, daß man in Vernunft mal reden kann? - Lege doch, bitte, bei Hanna ein gutes Wort für mich ein. Sie ist mir Recht böse, weil ich vor ihrer Abreise nicht kam, obgleich ich es vorher versprochen hatte. Entschuldige, bitte, die Schmiererei, aber ich habe nicht viel Zeit u. sonst wirds wieder nichts mit ein paar Zeilen für Dich.

Mit herzlichem Gruß bin ich in alter Freundschaft u. Treue

Es ist recht drollig, daß ich einem Studenten ein Stückchen Schokolade schicke. Aber ich weiß Du isst sie gern u. deshalb hoffe ich, daß du mich nicht zu sehr auslachst. -

    Entität nicht im Datensatz vorhanden

    Personen:

    Orte:

    Literatur:

    • Tillich, Paul, Impressionen und Reflexionen (GW XIII) 
    • Tillich, Paul, Ein Lebensbild in Dokumenten : Briefe, Tagebuch-Auszüge, Berichte (EW V), hg. von Renate Albrecht, Margot Hahl, Stuttgart 1980.