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den 01.12.1920

Geliebte Hannah!

Nun sitze ich im D-Zug nach Bremen und schreibe den 5ten Brief an Dich, ohne Antwort zu haben; einen davon scheint Lotte Storch nicht einmal bekommen zu haben, ich fürchte den, worin ich Dir von Eros und Agape schrieb und viel von meiner Seele zu Dir trug. Am Montag hatte ich einen schweren Tag: Ich ging zum ersten Mal aus, ein paar Straßen weit; es war eisig kalt und neblig und an der ersten Ecke lag ein Mann und eine Frau; sie, erschossen von ihm ein paar Augenblicke vorher, er von sich selbst getroffen; sie sah elegant aus: Seidene Strümpfe, Pelzmantel, ein schrecklicher Gegensatz zu dem zerschmetterten Gesicht; ein Freiherr und seine junge Frau, wie die Zeitungen dann meldeten. Ich war den ganzen Tag völlig zerschmettert und verstört, trotz 4 Jahren Krieg! Ich mußte auch diese Wirklichkeit als meine eigene tragen; ich konnte sie nicht von mir tun als fremdes Schicksal: „Das bist Du“ verließ mich keinen Augenblick. O Hannah, warum sind unsere Augen so geöffnet, den | Abgrund zu sehen, der uns immer von allen Seiten umgibt? – – Ich warte mit größter Spannung auf Deine Antwort betr.effend meines Kommens u.s.w. Ich überlasse es ganz Deinem Gefühl – bis auf das „Du“, das für mich Bedingung ist. Der Gedanke, Dich vielleicht zu sehen, bereitet mir ein tiefes, warmes Glück. Oft fühle ich jetzt, daß, wenn auch das Ewige in mir frei ist auch von Dir, doch mein empirischer Mensch, Leib, Seele und Geist, Dich braucht, wie nur ein Mensch einen andern brauchen mag, daß Du meine Mutter bist, die mich umpfangen muß in diesem Leben.

Nun fahre ich in das weihnachtliche Bremen und will ein Kind sein in diesen Tagen und will den Schatten des Todes bannen helfen, der hier jetzt hinter jedem Weihnachtsbaum steht, nachdem Johanna den letzten geschmückt hatte, der dann über ihrem Sarg brannte; aber sie ist nun selbst ein Licht, das heller leuchtet als jedes irdische und ist mir eins geworden mit Dir, und dieses Doppellicht ist meine Weihnacht!

Paul
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