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den 01.01.1922

Geliebte, liebe geliebte Hannah!

Seit drei Tagen schon nichts von Dir! Ist es der Leib oder sind es Kämpfe oder ist es die Unruhe oder ist es Müdigkeit der Seele? Mein Leben bewegt sich durch Deine Briefe von einem Tage zum andern. Du bist mir alles und mehr als alles. Und diese Gewißheit gibt mir die tiefe Ruhe, an der auch die ständig zehrende Sehnsucht und Sorge nichts ändert. Komm bald, sei bei uns in Berlin, fülle mich mit Deiner Gegenwart, daß ich überströmen kann, was an Kräften in mir ist auf Dich und die Welt. – Ich arbeite jetzt, wie lange nicht mehr, wie früher, Tag und Nacht, in Gedanken, wo ich gehe und stehe; ich sehe, wie viel mehr gearbeitet werden muß, wenn das höchste Ziel erreicht werden soll. Aber mein Körper ist oft matt, ein Grad zu wenig im Zimmer und der Kopf fiebert, eine Stunde zu lange am Abend und der Vormittag ist zerstört. – Es ist merkwürdig, wie leicht mir die Askese wird. Das Gehirn ist erfüllt mit Problemen und mit Liebe zu Dir. Die verzweifelte Qual vergangener Jahre ist nicht mehr da. Es ist fast wie ein Gegenschlag; und ich bin unendlich dankbar dafür. | Ist es nicht merkwürdig, daß der Gedanke eines fremden Körpers fast Schrecken in mir erweckt? Es ist, als ob jene Tage der Seelenerschütterung bis zu dem Körper durchgedrungen wären und dort eine Wandlung geschaffen hätten. Vielleicht ist es aber auch bloß der Verbrauch aller Kräfte im Gehirn. – Dienstag fängt das Kolleg an. Vielleicht gelingt es mir, etwas halbwegs Druckfertiges zu schaffen; etwa „Vorlesungen über den religiös-philosophischen Gehalt der politischen Richtungen“. Aber vielleicht auch nicht. Jedenfalls will ich dann in den Sommerferien mit der Religions-Philosophie beginnen. Inzwischen drängen immer noch kleinere Sachen, Artikel, Berge von Recensionen, und das „System der Wissenschaften“ von vorigen Ostern. – Heut stürzt der Himmel Wassermassen herunter, was ich besonders liebe, wenn ich arbeiten will. Heut Nachmittag bin ich zum letzten Mal bei Sydows; dann geht er nach Hannover und sie folgt in einem Vierteljahr nach; vorher geht sie aufs Land. Schreibe mir über all Deine Pläne. Sprich Deine Worte der Liebe in mich hinein und werde mehr und mehr eins mit mir!

Paul.
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