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den 01.11.1921

Liebe liebe Hannah!

Liebe liebe Hannah! Mir ist jetzt, als müßte ich Deine schwesterliche Hand nehmen und sagen, ich bin bei Dir in dieser schwersten Entscheidung Deines und darum auch meines Lebens. Es ist so schwer, daß wir jetzt nicht beieinander sind. – Und doch darf ich am Sonntag nicht kommen. Wir würden uns nicht haben können, da ich am Montag ganz früh weg müßte; und vor allem: Es würde scheinen, als wäre ich gekommen, um zu wirken, daß Du gehst. – Daß aus Berlin nichts geworden ist, ist vielleicht doch gut; es ist für den Augenblick schwieriger; aber die Zukunftsbelastung wäre vielleicht zu groß, wenn Albert hier wäre, auch für ihn.

Und um seinetwillen muß ich Dir nun Folgendes mit größter Eindringlichkeit sagen: Du darfst unter keinen Umständen heimlich weggehen! Es ist Deine Sache zwar; aber es würde dann nur Deine sein; ich würde es nicht mit verantworten können. Du mußt den Mut haben, Dich jeder Eventualität einer offenen Aussprache auszusetzen! Du sagst: Sie ist nicht möglich! | Was heißt das? Du kannst und mußt ihm sagen, daß Du Euer Zusammensein im letzten Grunde als eine Halbheit empfindest, an der Du und er innerlich verderben müßt; Du kannst und mußt ihm sagen, daß er nicht abgelöst wird durch mich, sondern daß Du zu Dir selbst gehst, und Dir alle Freiheit in Bezug auf mich vorbehältst und sie mir lässest. Du mußt noch einmal um sein Verstehen ringen durch Deine Gegenwart als Frau. Und weiter: Du mußt mit ihm so reden: Er hat Dich und Deine Zukunft in der Hand. Du mußt ihn bitten, Dich frei zu lassen! Läßt er Dich nicht frei, willigt er nicht ein, so sind und bleiben wir unter allen Umständen und für immer getrennt. Und dann? Bist Du auch dazu entschlossen? Hannah vergiß nicht, daß unser empirisches Zusammensein von seiner Güte abhängig ist. Diese Güte kannst Du aber nur dann erwarten, wenn DuDein Dich in seiner Gegenwart mit Deinem ganzen Schicksal in seine Hand begibst! Wenn Du meinst, er würde Dich nicht ruhig anhören, nun so schreibe es ihm auf und sei dabei, wenn er es liest; aber er darf nicht ins Leere hinein rasen | oder fragen. Du mußt als Helfende bei ihm sein.

Und nun die finanziellen Dinge: Es gibt nur eine Lösung: Du mußt arbeiten; und da Du arbeiten kannst, so wird es auch möglich sein, Dir eine Stellung zu verschaffen. Dazu sind zwei Wege möglich. Der eine, daß Du wieder Lehrerin wirst; der andere, daß Du Stenotypistin und Privatsekretärin wirst. Der zweite Weg ist zunächst der sicherere; und es würde mir leicht sein, Dir etwas zu verschaffen. Du mußt darum die Münchener Zeit benutzen, um diese Dinge gut zu lernen. Daß Du an Tonis Stelle trittst, ist vorläufig unmöglich, da es mich der Universität gegenüber unmöglich machen würde. Dagegen kann ich Dich irgendwann als Mieterin aufnehmen, wenn Toni hier ist, und Du Geld verdienst.

Wegen des Kindes mache Dir keine Sorge. Gain hat auch eine zweite und dritte Klasse, die sehr gut sind: und ich kann von meinem Schwager eine größere Summe bekommen. Du mußt nur sehen, daß Du inzwischen | mit Deinen Eltern in ein ordentliches Verhältnis kommst, damit sie später unter Umständen das Kind zeitweise nehmen.

Dieses alles bleibt doch sekundär. Primär und für unser beider ganzes Leben entscheidend ist nur das eine: Ob Du mit reinem Herzen und unbeflecktem Gewissen, wenn auch unter tausend Schmerzen Deinen Weg gehst. Ob Du ihn aus Dir heraus als innerste Notwendigkeit empfindest, auch ganz abgesehen von allem, was nachher wird mit Dir und mir. Nicht abgesehen von meinem Dasein – das wäre eine unmögliche Abstraktion; aber abgesehen davon, was nachher aus Dir und mir wird. Nur dann, wenn Du darin ganz sicher bist, wenn es Dein inneres Schicksal ist (zu dem auch ich gehöre), daß Du gehst, nicht der Wille zu einem anderen äußeren Schicksal, nur dann kann ich die Bedingung erfüllen, mich Dir gegenüber frei zu fühlen; nur dann kann ich auch ganz mit Dir gehen und tragen. – Während ich dieses Letzte schreibe, wird mir fast leicht um die Seele. Gott sagt Ja dazu. Ich bin und will sein ein Teil Deines inneren Schicksals; denn dann bleibst Du frei und rein, und ich ebenso. Ob und inwieweit ich Dein äußeres Schicksal dann sein werde, muß zweifelhaft bleiben, damit die innere Notwendigkeit sich rein auswirken kann.

Dieses ist meine letzte Klarheit. Sage mir, ob auch Du sie siehst und hast!
Paul.
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