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den 01.03.1921

Mein Hannahchen!

Mein liebes müdes Schwesterchen! Ist es nicht wunderbar, wie wir nun seit Oktober alle Leib- und Seelenstimmungen gemeinsam durcherleben? Außer mit meiner Schwester habe ich nie wieder etwas derartiges mit einem Menschen erlebt. Dies: „Dein Leib ist mein Leib", ist mir bei Dir immer gewisser, immer tiefer beglückend, auch wenn es sich in gemeinsamen Leiden und Depressionen offenbart. – Ich habe gestern Abend mein Kolleg beendet; Dienstag ist die letzte Vorlesung, und dann bin ich frei, wenigstens von dem ärgsten Druck; ich will dann einmal 14 Tage lang versuchen, auf andere Gedanken zu kommen und ein paar Bälle mitmachen, das Gehirn ausruhen und das Blut in Bewegung bringen; dann fahre ich vielleicht zu Ostern nach Bremen, und dann, sobald die Schulferien zu Ende sind, komme ich zu Dir; und bis dahin sollen unsere Seelen stille werden und durch Stille stark; mir ist jetzt so, als ob das stille Glühen unserer Liebe all die Wände {weg} durchglüht und in Nichts auflöst, die das Schicksal zwischen uns gestellt hat; ja mir ist, als ob die stille Glut stärker ist und noch tiefere Wurzeln hat als der heilige Wahnsinn. – Es ist mir sehr lieb, daß Du mir wegen Marie-Luise Vollmacht gegeben hast; so oft sie hier ist, sieht sie Deine beiden Bilder als einzige auf meinem Schreibtisch und wird ja ihre Gedanken haben. Danach will ich noch warten und sehen, wie es mit ihr möglich ist. Gestern Nachmittag war sie mit G. Immohr und einer Freundin von Dir hier, um mit Frl. Rudolf die Kostüme zu probieren; dann tranken wir alle in Kostüm Kaffee. Sie sieht sehr reizend aus. – Heut geht es mir recht schlecht; aber ich hoffe, daß die Ablenkungen mir helfen werden. Mittwoch gehe ich mit Nora Mengelberg auf den Ball der Jury-Freien. Freitag auf den Kunstgewerbeball; Mittwoch in 8 Tagen auf die Nachfeier, die entscheidende Stunde nach einem Jahr im gleichen Raum wiederzuerleben! – Mach Deine Liebe zu mir nicht davon abhängig, daß ich Wegweiser und Führer zu Gott sein kann. Wer wollte sich unterfangen, das zu sein, und was sollen wir mit unseren müdesten Stunden machen; wir müßten verzweifeln in ihnen. Liebe auch meine Schwachheit! Sonst liebtest Du ja nur eine Abstraktion, eine Idealgestalt. ¿¿¿ ... ¿¿¿ so müde war ich [37/38] gestern, daß ich hier aufhörte und erst heut früh nach langer Nacht fortfahre. Ich glaube, gestern war auch eine barometrische Depression; ich reagiere von jeher sehr stark darauf. Das Dynamische in der Natur steht uns näher als wir denken; und durch das Dynamische das Astrale und durch das Astrale der ganze Kosmos; ich schicke Dir heut als Drucksache den ersten Teil meines Artikels, worin ich diese Gedanken für eine Philosophie der Masse fruchtbar mache. – Heut werde ich von dem einen Generalsuperintendenten dem anderen übergeben, und weiß nun nicht, was wird. Nimmt mich der neue stark heran und läßt er mich in den Ferien nicht wegfahren, dann lege ich die Sache nieder, obgleich ich noch nicht weiß, wovon ich dann leben soll; aber bis zum Herbst komme ich noch durch; und dann hat sich sicher etwas anderes gefunden. Ich weiß, daß meine Arbeit an sich notwendig ist, und darum weiß ich auch, daß das Schicksal sie mir ermöglichen wird. Denn unser Schicksal ist unser Sein; wir erfahren, was uns jeweilig adäquat ist. Nur das kann bei uns einhaken, nur bei dem können wir einhaken. – In meinem Zimmer stehen die Riesen-Koffer von Tante Toni. Donnerstag wird sie nun wohl definitiv kommen. Ich sehe ihr jetzt schon mit großer Ruhe entgegen[,] weil ich fühle, daß mein Wille stark genug sein wird, sie zu leiten, wie es mir notwendig ist: Jedenfalls sollst Du nie einen Augenblick das Gefühl haben, nun weniger hier zu Haus zu sein, als früher. Im Gegenteil: Sie wird sich nie anders fühlen denn als Deine Stellvertreterin. – Geliebte! Der Gedanke, vielleicht bald in warmer Frühlingssonne durch Eure Berge mit Dir zu streifen, macht mich warm und selig!

Tag und Nacht fliege ich zu Dir, und alles was ich hier sehe und fühle ist wie ein Schattenbild. Die Realität meines Lebens aber bist Du!
Paul.
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