Der editierte Text

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Liebe Hannah!

Einen langen Brief willst Du haben. Ich hoffe, inzwischen sind die beiden andern angekommen,2 daß Du weißt, ich denke an Dich, {ich} bin bei Dir! Heut will ich nur berichten, damit Du weißt, wievieles auf mir lastet. Zuerst die Arbeit. Ich soll bis zum Oktober b vollenden; eigentlich erfordert das eine Kenntnis des gegenwärtigen Standes aller Wissenschaften. Einigermaßen geht das noch in den Kulturwissenschaften, unmöglich ist es in der Naturwissenschaft; trotzdem muß ich aus der Philosophie so viel Einfühlung haben, um über das Prinzipielle reden zu können. Da ich aber mit einer neuen Idee an das Ganze herangehe, so ist die Produktion oft qualvoll schwer. Gelingt es, so kann es ein großer Wurf sein. – – – Daneben habe ich eine dicke "Erneuerung des Strafverfahrens"| durchgearbeitet, um es auf philosophische Grundlagen zu recensieren. Die Bibliothek Warburg wartet auf einen Artikel und 2 andere Zeitschriften sind bereit, etwas zu nehmen. Und es wäre so wichtig! – Die zweite Hauptarbeit ist die c. Ich habe 4 Typen da: d, den protestantischen Theologen, e, den katholischen Philosophen, f, den jüdischen Mystiker, g den monistischen Ästhetiker. Ich will daraus einen Artikel über die gegenwärtige Lage der Religionsphilosophie für das "Neue Deutschland" und einen h machen; jedes der 4 Bücher hat 5–700 Seiten.3 Und schon drängt das schwere Semester mit der mittelalterlichen Philosophie. – Dazu kommen Verhandlungen mit m; das Vorteilhafteste für mich wäre eine Anfechtung| der Ehelichkeit des n: Aber dagegen wehrt er sich, weil es für ihn notorischen Ehebruch bedeutete und seine Existenz vernichten würde. Das will ich nicht; für mich aber ist das o eine schwere Belastung, gesellschaftlich und – wenn p sterben sollte, auch finanziell; ich suche nach einem Ausweg, habe aber noch keinen. Schneller wird wohl die Ehescheidung funktionieren, falls keine unvorhergesehenen Fälle eintreten. Aber lastend ist das alles. – Hier ist es unvergleichlich schön. Aber es sind dauernd viele Bekannte da. q mit ihrer Schwester r, s mit einer Freundin; man sieht sich zwar nur morgens am Strand, aber es ist doch immer lebendige Realität. Mit t habe ich ein sehr freundliches mehr kameradschaftliches Verhältnis. Sie versorgt mich sehr gut,| auch Mittags, da das Ausessen zu teuer ist; so wird es möglich sein, bis zum 1. Okt. zu bleiben. Ich bin fast ganz unerotisch, spiele am Strand und denke an meine Arbeit, und bin oft bei Dir! Es sind jetzt wieder heiße Tage, die letzten wohl im Sommer, und bald kommt der kalte, harte Winter, vor dem mir graut.

u steht jetzt unter dem Einfluß von Wahrsagerinnen, was mich sehr bedenklich macht. Sie hat ihr Land vorteilhaft verpachtet; aber was nun, mit Kind, und ohne Geld? – Kommt [sic!] nach v w; und der Winter wird mir hell sein, wenn Du nur da bist.

Dein x.

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "Sept. 21" vermerkt.
2Liegen nicht vor.
3Gemeint sind wahrscheinlich folgende Werke: i; j; k; l

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. Ein Entwurf v..., 1923
cTillich, Religionsphilosophie, 1925
dScholz, Heinrich
eScheler, Max
fBloch, Ernst
gZiegler, Leopold
hTillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, 1922
iScholz, Religionsphilosophie, 1921
jScheler, Vom Ewigen im Menschen, 1921
kBloch, Geist der Utopie, 1918
lZiegler, Gestaltwandel der Götter, 1920
mWegener, Carl Richard
nTillich, Klaus Eberhard
oTillich, Klaus Eberhard
pWegener, Carl Richard
qSydow, Gertrud von
rWever, Grete
sJessen, Malla
tStern, ???
uTillich, Margarete
vBerlin
wTillich, Hannah
xTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(17)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von November 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 11. April 1922

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von September 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01325.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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