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den 19.04.1922

Hannah!

Nun ist es Mittwoch Morgen. Nach grauenvollem Erwachen habe ich unter neuen Qualen Deinen Brief gelesen. Ich kann keine Gedanken mehr finden, die ich nicht im Geist an Dich schreibe; aber ich will vieles zurückstellen, ich will mich nicht beklagen über die Bitterkeit, daß mein Leben seit 8 Jahren in Briefen besteht, und daß jeder Brief eine Lüge ist, weil er eine Loslösung aus dem Lebensproceß ist. Ich will mich beherrschen und den zitternden Geist und die zitternde Hand in Zucht nehmen und Dir antworten. Zuerst Deine 5 Fragen, die ich mit einer Antwort beantworten will: In dem Augenblick, wo Deine Briefe mir die Augen öffneten, daß ich gerade jetzt, wo ich glaubte, aus dem Zwiespalt heraus zu sein, in den tiefsten Zwiespalt gekommen bin, habe ich den Zwiespalt aufgehoben; ich habe Margot selbst durch das Verlesen Deiner Briefe zu dem Entschluß geführt und habe ihn dann in einem Moment tiefer Einheit im Geist ihr noch einmal von mir aus gesagt: Das Erotische zwischen uns ist überwunden; und sie sagte: „Du bist mein Bruder und jetzt bin ich wieder gerade | klar.“ Daß dieses möglich war, diese Tatsache, soll Dir Antwort sein auf alles. Ich habe nie jemand anders geliebt als Dich, und glaube es mir, Hannah, Margot ist mir nie das Unbedingte, sondern die Gehülfin zum Unbedingt-Konkreten, zu Dir hin gewesen; daß dieses ein Irrtum war, sehe ich, und als ich es sah, handelte ich danach. Ich habe mich nie körperlich von Dir losgelöst; täglich hat Dein Bild in meine Seele gestrahlt. Täglich hat Dein Körper mich mit Sehnsucht erfüllt. Ich habe nie falsche Schwüre getan; denn was ich Dir schwor, war der Wille, aus der Zerspaltenheit herauszukommen. Das Mittel wußte ich nicht; nun weiß ich es; nun wende ich es an. – Hannah ich habe mich tief vor Dir gedemütigt, und ich durfte es, weil Gott mich durch Dich richtete; nun sei auch Du demütig und laß Deine Liebe erstarken zu einem Verstehen meines Willens. Denn mein Wille war gut; er war Wille zu Dir hin, und nichts als das. In der Nacht noch wollte ich Dir drohen mit Verzweiflung, wenn Du mich verstößest. Jetzt aber fand ich das Gebet zu Gott, daß er Dich mir wiederschenken möge | und die Demut, die sich beugen will und weiter leben, auch wenn ihr alles genommen wird. Und jetzt erst werde ich ruhig; denn jetzt erst weiß ich, daß meine Umgesinnung nicht ein heimliches Mittel ist, Dich zu halten, sondern daß es da ist, auch wenn Du mich verstößest. Ich erwarte alles von Dir und Deiner Antwort, Leben und Tod im irdischen Sinne; ich müßte auch das Todesurteil ertragen. Aber weil ich ein Mensch bin, dem das Leben sich immer wieder verschlossen hat, bitte ich Dich: gib mir Leben, gib mir Dich; denn nur Dich begehre ich als Leben, und wenn ich schwanke, so war es,weil es, weil Du von mir gegangen warst und ich nicht die Gewißheit hatte, Dich wegnehmen zu dürfen, wenn Du anderswo noch sein konntest, wo Du Dich gebunden hattest. Mein Schwanken war ein Schwanken um des Gewissens willen und nicht um Deinetwillen, um des Gewissens willen gegen Albert. Und Hannah, wenn diese Woche, deren Schrecklichkeit ich nur mit dem Schrecken der Todeswoche meine Kindes und Johannas vergleichen kann, doch noch zum Leben führt, so hat sie mir diese Gewißheit gegeben: Wenn Du in diesem Unglauben an mich keinen Augenblick daran dachtest, nach Greiz zurückzukehren, so bist Du dort los so wie es nur zwei Menschen sein können; und so ist der eine Wunsch nur ganz erfüllt, daß ich weiß, es war kein empirischer Raub, den ich begangen habe.

Hannah, Ich liebe Dich mit ungebrochener, unzweifelhafter, unbedingter Liebe seit Winter 1920. Nichts hat das geändert, alles waren nur Schatten und der letzte, den ich für Licht hielt, war der tiefste. Jetzt ist im ewigen mir die Sonne da. An Dir hängt es, ob sie die empirischen Schatten bannen kann

Hannah, ich kann nicht mehr, aber ich bitte Dich, wie Du auch antwortest, um zweierlei: Wenn in meinen stammelnden, irrenden Worten etwas Dir als Fremdheit erscheint, so frage mich erst, ehe Du es zur Grundlage wilder Worte oder harter Verwerfung machst. Und vor allem bitte ich Dich um die eine Barmherzigkeit: Ob zum Leben oder Tod, antworte schnell, und wenn noch die Möglichkeit eines Mißverstehens besteht, so erlaube mir, nach Marburg zu kommen.

Aus tiefster Hölle.
Dein, nur Dein Paul.
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    Personen:

    • Ilse-Margot
    • Fritz, Johanna (Sie war die Schwester von Paul Tillich und die erste Frau von Alfred Fritz. Sie war eine geborene Tillich.)

    Orte: