Brieffragment von Paul Tillich an Hannah Tillich von Oktober 1921

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Der editierte Text

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1So ist mir denn wieder ein b gestorben, wie vor 2 Jahren hier in c. Ich habe einen schweren bitteren Tag hinter mir, einen Tag des Gerichts und der Qual, der hoffnungslosen Verzweiflung und schließlich der klaren Einsicht.

Das Kind muß leben bleiben; ein zweites Mal, hieße final Gott versuchen. Weder Du noch ich haben die Kraft, die Folgen zu tragen.

Wenn aber das Kind lebt, so bist du gebunden, ihm Mutter und Vater zu erhalten. Du bist verantwortlich für ein unschuldiges, hilfloses Wesen. Weil Du Mutter bist, mußt du Frau bleiben; es sei denn, daß irgend einmal Du die Existenz schlechterdings nicht ertragen kannst, und gerade um des Kindes willen fliehen mußt. Aber das ist kein Ziel, sondern kann nur eine traurige Not sein, auf die zu warten schlecht wäre. |:#ich bin gebunden an das Gebot meines Herzens, an den Geist, selbst wider die Natur –:|2|

Dein heutiger Brief heißt: Im Prinzipiellen gibt es für uns keinen Weg mehr zur Einheit; alles Bisherige hätten wir wie Hürden überspringen können; jetzt hat das Schicksal die klare Scheidelinie gezogen, die wir nicht überspringen können, ohne innerlich stürzen zu müssen.

Du mußt nun Mutter werden und all Deine Seelenkräfte darauf konzentrieren. Das bist Du dem Kinde schuldig. Du mußt jeden Gedanken * an empirische Gemeinschaft mit mir verbannen. Er darf Deine Ruhe nicht erschüttern, die zu dem Eintritt der neuen Seele in die Welt gehört. |:* - ich kann mein Blut nicht umwandeln Das Kind kommt mit einem {¿¿¿} Schrei meines Blutes nach Dir zur Welt –:|

Was aus mir wird, weiß ich nicht. Ich werde leiden, und ich bin auch stolz, daß ich leiden muß. Denn es geht mir wie Zarathustra: "Wenn der Würfel zu unsern Gunsten fiel, so fragen wir uns: Sind wir denn falsche Spieler?"3 Mein menschliches Leben ist nun leer; möge mein geistiges um so voller werden.|

Den goldenen Reifen behalte ich; er ist das Symbol der Einheit, die höher ist, als die irdische Scheidung; ich werde am Montag einen goldenen Fingerring dazu legen, den ich seit einem Jahr für Dich nur trug. Ich werde still und einsam werden, wenn nicht das Blut mich dann und wann in wilde Strudel treibt.

Wie unsere empirische Gemeinschaft sich gestalten wird, weiß ich nicht; viel hängt davon ab, wo Ihr wohnen werdet. Wenn Ihr nach f kommt, so werden wir uns oft sehen, und Deines Kindes Werden miteinander erleben. Wenn Ihr fern seid, so werden wir uns schreiben ohne die Qual und Seligkeit des Hoffens, ruhig gebend, ruhig nehmend.

Mein menschliches Leben ist nun zerbrochen nach allen Richtungen, in Vergangenheit und Zukunft. Ich ahnte, daß es so werden| würde, als ich aus dem Krieg kam und dem Todesurteil über unsere ganze Generation entgangen war; ich ahnte, daß nun das Leben nicht mehr persönliches Glück sein könnte. Ich schrieb es in der Champagne-Schlacht an meinen g. Ich hatte Recht.

Ich kann nun nicht mehr, sonst müßten die Tränen aus meinen Augen stürzen und die Schrift verwischen. Leb‘ wohl mein süßes Leben! Lebe Dein Leben, stark, klar, rein; und ich werde meines leben, hart, wild, ringend! Und unser beider Leben und ihre gegenseitige Einheit soll zu Gottes Ehre sein, auch durch Schuld und Irrtum hindurch.

Leb' wohl!
h.
|:O, ijetzt weiß ich besser, was Liebe ist – ich komme, was soll mich halten und ich komme bald:|

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "Oktober 21" vermerkt. Außerdem sind die Unterstreichungen in dem Text von gleicher Hand und erst nachträglich ergänzt worden.
2Von fremder Hand ergänzt (wahrscheinlich d).
3Vgl. e. Dort heißt es richtig: "Ich liebe Den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler?"

Register

aTillich, Hannah
bFritz, Johanna
cBremen
dTillich, Hannah
eNietzsche, Also sprach Zarathustra, 1891
fBerlin
gTillich, Johannes Oskar
hTillich, Paul
iTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(17), fol. 1, 2; bMS 721/2(16) fol. 3, 4
Typ

Brieffragment, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von März 1921
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich von Februar 1922

Entitäten

Personen

Orte

Literatur

Zitiervorschlag

Brieffragment von Paul Tillich an Hannah Tillich von Oktober 1921, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01311.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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