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den 01.11.1921

Oh Hannah!

Hannah! Was hast Du mir getan, daß Du meine eben gewonnene Ruhe in wildes Toben des Blutes verwandeltest? Warum bist Du Feindin geworden meiner Sehnsucht nach stillem Kraftsammeln, nach Klarheit und Sieg? Warum bin ich anders seit jenem Vormittag, wo der rasende Strom des Lebens durch unsern Leib tobte? Zwar am Tage darauf war ich elend wie ein Verworfener des Daseins, leer, todessüchtig, durchschmerzt, bis das Wort meines Vortrags mich erlöste; nun aber ist in mir wilde Kraft, nicht zu Vielheit der Ekstasen, sondern zu geschlossener starker herrschgewaltiger Tat. Ich will nichts Halbes mehr dulden in mir und um mich, keine halben Askesen und keine halben Seligkeiten, keine Doppelziele und Siebentelgefühle. Gestern war ich bei meiner Frau, und als sie mich streichelte, sagte ich ihr: Heut leide ich zum ersten Mal, daß dieses nicht eine andere Hand ist. – – – sonst war Deine Erotik mir stärker, jetzt bist Du auch darin besiegt von der, die ich liebe! Ja, Du, täglich schreit | jetzt mein Leib nach dem Deinen mit nie geahnter qualvoller Inbrunst. Jede Frau lockt mich, peinigt mich, und keine mag ich, weil jede Frau ist, wie Du und keine Du ist! Und wenn ich siegen will und Ruhe schaffen, dann kommen Deine Briefe, die wie ein Orkan durch mich hindurchtoben und jeden Blutstropfen zittern lassen. – Ich habe unsere Waffenrüstung gemessen zu dem Kampf, den mir anzusagen ich Dich gezwungen habe, und ich fand, daß Deine reicher ist an blitzenden Schwertern und klingendem Spiel und Ungestüm des Angriffs; Deine Waffe ist das Leben, Dein gewaltiges, herrliches Leben, mit Engels- und Dämonenkräften. Meines Lebens Puls ist langsamer, kühler, ärmer; und doch bin ich stärker, denn ich habe eine Waffe, die Du noch nicht kennst und die Du nicht haben kannst; die ich Dir aber, wie es unter Edlen Pflicht ist, nennen will: Ich war im Lande des Todes! Ich habe | nie bisher davon zu Dir gesprochen; man spricht nicht gerne davon, zumal ich hundert mal erfahren habe, daß selbst die Voraussetzungen des Verstehens bei den besten und tiefsten Menschen fehlen. Nur dies will ich Dir sagen, daß ich drei Jahre lang innerlich abgeschieden und mit dem Tode, der mich täglich umgab, in Zittern und Grauen und oft in Sehnsucht, eins geworden war; daß durch Leben und Liebe, durch Geist und Natur ein blutender Riß ging, der mich lostrennte vom Leben, und mich darum trotz meiner Lebensschwächen zum Lebenssieger machte. Davon kann ich Dir mehr nur sagen in einsamer Stunde, wenn Du an meinem Herzen liegst. Wenn Dein wildes Leben mir dieses, mein dunkles, unscheinbares, aber alles, alles zerschneidendes Schwert aus der Hand schlägt, dann binde mich und wirf mich weg und töte mich dazu; aber ich weiß, Du wirst es nicht! Denn ich habe meinen Gott selbst damit erschlagen und einen neuen geboren. Und wenn | ich von meiner Ruhe in Gott sprach, so taste sie nicht an; denn in ihr ist aufgehoben die Majestät des Todes! Wenn Leben und Tod miteinander ringen, so siegt immer das Leben; wenn aber das Leben den Tod in sich nimmt, welches Leben ist ihm dann gewachsen? Ich rede nicht von den Ekstasen des Abgrundes, sondern von dem einfachen schlichten absoluten Ernst des Nichtseins. Ich rede nicht um Dich zu schrecken, sondern um Dich mir zu offenbaren, damit Du Deinen Feind erkennst!

Hannah, ich liebe Dich mit einer übermenschlichen fast grauenvollen Liebe. Ich habe gestern die Bände George gekauft, die mir noch fehlen, und arbeite schon an ihm, weil Dein Brief mir zeigte, daß er ein Zugang zu Deinem Geist ist, der mir noch in vielem verborgen ist. Ich war bei Nora M. [Mengelberg] und habe mit ihr gerungen und will weiter mit ihr ringen, weil sie Dich liebt. Du mußt bald kommen, für immer kommen; die Qual der Halbheit Deines Lebens – oder der Doppelheit – ist nicht gut fürEuch uns alle, auch nicht für ihn! Setze keine Termine, folge Deinem Engel, wenn er Dich gewiß macht. Sei stark um der Wahrheit willen!

Paul.
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