Der editierte Text

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Montag.1.
Süße, geliebte b!

Wie Ströme lauteren Goldes, so fließen Deine Worte aus Deinen Briefen2 in meine Seele und wie Gluten heiligster Liebe brennt es mir aus jedem Brief entgegen; es ist so viel Hoheit und Kraft der Leidenschaft und Göttlichkeit in Dir, daß meine Seele durchschauert wird von der Größe dessen, was es heißt, Dich lieben zu dürfen. Die größte Liebe aber tatest Du, als Du Deine Versuchung überwandest, als Du hart bliebst gegen Dich und mich, als Du das wurdest, wonach ich mich immer sehnte, daß Du es würdest, die Gegenkraft, die ich brauche, um weiter zu kommen, die ich auch brauche, um im höchsten Sinne rasten zu können. Und um so mehr danke ich Dir, als Du diese Gegenkraft nicht wirksam werden ließest in kleinen Dingen, wo sie mich bloß geärgert, nicht erlöst hätte. Ich danke Dir, daß Du nie taktisch gegen mich warst, sondern stark genug, über allem Kleinen allein das Entscheidende zu sehen! – Ich bin noch sehr matt und erschöpft von der vergangenen Woche; es ist| als |:ob:| mein ganzer Körper durchschüttelt und mein Blut und meine Seele gereinigt wären. Ich bin Tag und Nacht müde, würde am liebsten immer schlafen. Auch ich gehe schwanger. Jene Tage haben ein neues Lebensgefühl in mir geschaffen, das in mir stößt und arbeitet. Alle wundern sich, warum ich so still bin; ich kann aber nicht; in mir sind die schweren Wehen eines allseitig Neuen. Es ist ein tiefes Leiden auf dem Boden noch tieferen aber ganz stillen Glückes. Ich bin Dir ganz zugewandt, so daß ich immer mehr zu dem Entschluß komme, vom Herbst an aller Halbheiten ein Ende zu machen, und Dich mit dem Kinde hierher zu nehmen. Ich glaube, einem einfachen klaren Entschluß wird auch die Welt sich beugen; und wenn nicht, was schadets? Du bist mir mehr als die Welt.

Dein Bild und Dein Kästchen sind angekommen. Das Bild leuchtet über der Wandbekleidung des Chaiselongue, das Kästchen strahlt in der Sonne meines Schreibtischs. Hab Dank, c, hab Dank, für alles, für Dich, für Gott, der durch Dich zu mir kam.

d.

Fußnoten, Anmerkungen

1 Am oberen Rand des Briefes wurde von fremder Hand (wahrscheinlich a) "24.04.1922" vermerkt.
2Liegen nicht vor.

Register

aTillich, Hannah
bTillich, Hannah
cTillich, Hannah
dTillich, Paul

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard, Harvard Divinity School Library, Tillich, Hannah. Papers, 1896-1976, bMS 721/2(18)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
unbekannt - unbekannt
voriger Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom April 1920
nächster Brief in der Korrespondenz
Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 16. Mai 1922

Entitäten

Personen

Zitiervorschlag

Brief von Paul Tillich an Hannah Tillich vom 24. April 1922, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01306.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L01306.pdf