Der editierte Text

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a, den 4. August 1933.
Sehr verehrter Herr Professor b!

Am Semesterende ist nicht nur mir, sondern gar manchem meiner befreundeten Kommilitonen so ganz bewusst geworden, dass wir Sie, als unseren akademischen Lehrer schmerzlich vermisst haben. Ihre Vorlesungen und Seminare stellten und stets in ungeheure geistige Spannungen hinein. Diese Probleme gingen uns an, viel tiefer und letztlicher als komplizierte philosophische Zusammenhänge.

Auch die Form Ihres Denkens war so ansprechend. Anfangs schien sie schwer, fast unverständlich. Doch dann blitzte es einem irgendwo auf, man wuchs immer tiefer in sie hinein und erkannte mehr und mehr ihren Sinngehalt.

Es war mir immer eine grosse Freude,| wenn es mir bei den Examenskandidaten, die ich für die philos. Prüfung vorbereitete, gelang, sie die Problemtiefe der Begriffe: Archaik, Fragesituation, etc. ahnen zu lassen.

Was die Formung meines Geistes Ihnen, verehrter Herr Professor, verdankt, lässt sich nur schwer sagen. Ich glaube, das Wesentlichste, was ich von der Universität mit ins Leben nehme. Es war nicht immer ein glattes Zustimmen, sondern ein heftiges Auseinandersetzen. Mein grösstes, geistiges Erlebnis war c, wie Sie ihn boten. Ja, das ist Wissenschaft, wo der Geist sich selbst erfasst.

Das musste ich Ihnen einmal schreiben, sebst wenn es den Anschein erwecken könnte, ein billiges Lobsprüchlein zu sein.

Die Erinnerung an die gemeinsame Arbeit mit Ihnen hat mich auch hochgehalten, als man mir in letzter Zeit jede "philosophische Fähigkeit" absprach und die von Ihnen angeregte Arbeit über "Die Analogien im Seienden bei d"| für "äusserst dürftig" und "minderwertig" beurteilte. Ich habe also die beste Aussicht, im Staatsexamen im November gerade in Philosophie durchzufallen.

Eine Zeit lang habe ich selbst an meinem Denken gezweifelt und verzweifelt. Dürfte ich die Arbeit Ihnen einmal zuschicken? Vielleicht finden Sie Zeit zu einer kurzen Durchsicht. Es sind nur 35 Seiten. Wenn Sie die Arbeit auch für minderwertig halten, dann glaube ich es.

Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe in aufrichtiger Verehrung
Ihre einstige Schülerin
e.

f W 13
Friedrich Naumannstr. 97.


Fußnoten, Anmerkungen

Register

aFrankfurt am Main
bTillich, Paul
cHegel, Georg Wilhelm Friedrich
dAugustinus
eHain, Mathilde
fFrankfurt am Main

Überlieferung

Signatur
USA, Cambridge, MA, Harvard University, Harvard Divinity School Library, Tillich, Paul, 1886-1965. Papers, 1894-1974., bMS 649/147(15)
Typ

Brief, eigenhändig

Postweg
Frankfurt a. M. - unbekannt

Entitäten

Personen

Orte

Zitiervorschlag

Brief von Mathilde Hain an Paul Tillich vom 4. August 1933, in: Paul Tillich, Korrespondenz. Digitale Edition, hg. von Christian Danz und Friedrich Wilhelm Graf. https://tillich-briefe.acdh.oeaw.ac.at/L01249.html, Zugriff am ????.

Für Belege in der Wikipedia

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L01249.pdf